Alphaweibchen Merkel

Die Bundeskanzlerin wirkt wie eine Lichtgestalt – und denkt die Deutschen seien wie sie. Dass die Mehrheit ihren „Mut zur Freiheit“ nicht teilt, wird sie bald überraschen

Merkel will zwar ein „Herz für Schwache“ haben, aber bedürftig sind für sie nur „Kranke, Kinder, Alte“

Kanzlerin Merkel ist so überrascht über ihren eigenen Erfolg, dass sie in ihrer Regierungserklärung nicht mehr wusste, was sie am erstaunlichsten finden sollte: die große Koalition? Matthias Platzeck als SPD-Chef? Oder eine Frau im Kanzleramt? Bei dieser Liste der „Überraschungen“ hat Merkel allerdings ein Wunder vergessen. Es wäre sehr überraschend, wenn die große Koalition bis zur nächsten regulären Wahl 2009 durchhalten würde.

Es ist eigenartig, wie selbstverständlich Merkel Normalität und Dauer suggerierte. Obwohl die letzte Legislaturperiode vorzeitig endete, soll dies künftig undenkbar sein. Ebenso wenig war noch Thema, dass beide Volksparteien rasant verloren haben und die Linkspartei entstand. Diese Brüche wurden überspielt, indem die Vergangenheit auch die Zukunft sein soll. Es war nicht nur Koalitionstaktik, dass Merkel ihrem Vorgänger Schröder „ganz persönlich“ für die Agenda 2010 dankte. Und zwar „im Namen aller Deutschen“, wie der Redetext präzisierte.

Das sind staunenswerte Worte, blenden sie doch aus, dass es Proteste gegen den Sozialabbau gab. Aber solch Opposition, denkt man Merkels Dankesformel zu Ende, gilt anscheinend nicht als deutsch. Diese anmaßende Ausgrenzung ist nicht nur bei Merkel zu finden. Auch sonst wird die Linkspartei konsequent ignoriert. Sie kommt mit ihren Themen nur vor, wenn Parteichef Lafontaine provoziert. Denn das irritiert nicht, ist weniger Politik als Unterhaltung. Schließlich steht für die etablierten Parteien längst fest, dass Lafontaine nur Polit-Clown ist.

Vor der Wahl war das noch anders. Damals sah es kurz so aus, als würden sich die Diskurse beleben. Es war zwar ein wenig albern, dass die Grünen plötzlich als „moderne Linkspartei“ firmierten – aber immerhin ein Zeichen. Doch diese Irritation bei den etablierten Parteien ist vorbei. Nun wiederholen sich jene erstaunlichen Fehler, die schon Schröder sein Kanzleramt gekostet haben.

Der erste Fehler: Wieder wird ausgegrenzt. Merkel will zwar ein „Herz für Schwache“ haben, aber bedürftig sind für sie nur „Kranke, Kinder, Alte“. Erwerbslose zählen nicht dazu. In Merkels heiler Welt müssen sie „ihre eigenen Kräfte entdecken“. Aber stattdessen kassieren viele Arbeitslose angeblich lieber beim Sozialstaat ab. „Weniger Missbrauch“ heißt daher das Regierungsziel. Nichts ist so verbreitet wie der Verdacht, dass man als Einziger schuftet, während sich alle anderen bereichern. Trotzdem sind Neiddebatten nur kurzfristig beliebt, denn sie kollidieren mit dem tiefen Wunsch nach Sicherheit. Es braucht nicht viel Fantasie, um sich zu sorgen, man könnte irgendwann selbst zu den Abstiegskandidaten gehören. Daher existiert eine stabile „Gerechtigkeitsmehrheit“.

Merkel scheint es fast vergessen zu haben: 2005 wählten die Deutschen wie 2002 – die Mehrheit ist nicht neoliberal.

Der zweite Fehler: Die deutschen Besonderheiten werden negiert. Zwar behauptete Merkel etwas seltsam, dass „unsere kulturelle Vielfalt einzigartig“ sei. Vielleicht meinte sie damit ja die Bayern. Aber ansonsten haben wir uns am Ausland zu orientieren, um zu beweisen, „Deutschland kann das auch“. Dabei wird übersehen, dass die Deutschen vielleicht nicht einzigartig, aber eigenwillig sind. Die Amerikaner haben dafür das Wort „German Angst“ erfunden. Erst jetzt wird in den Sozialwissenschaften systematisch erforscht, was es für die deutsche Mentalität bedeutet, dass die Babyboomer von Eltern abstammen, die im zweiten Weltkrieg als Kinder und Jugendliche schwer traumatisiert wurden. Sie alle sehnen sich nach Sicherheit. Das passt nicht so recht zu einer Kanzlerin Merkel, die „Mut zur Freiheit“ fordert.

Dritter Fehler: Merkel beweist ziemlich schnell, nicht lernfähig zu sein. Ungebremst schließt sie von sich selbst auf alle Deutschen. Kein Zweifel, die Kanzlerin ist eine große Machtbegabung, die in komplexen Gruppenprozessen sofort und instinktiv erkennt, welche „Koalition der neuen Möglichkeiten“ für sie entsteht. Das macht sie frei, macht sie zur Handelnden, nicht zum Opfer. Ein Schlüsselwort in ihrer Rede waren denn auch die „Taten“, die ihre „Regierung der Taten“ vollbringen will.

Dennoch ist erstaunlich, dass sie nicht erkennen kann, wie selten diese absolute und unbegrenzte Freiheitsfähigkeit ist – ist doch nur durch dieses Ausnahmetalent zu erklären, dass sie überhaupt zur Kanzlerin aufstieg. Die weniger Durchsetzungsstarken, wir vielen Betaweibchen und -männchen, brauchen, wollen und üben Solidarität. Und Alphaweibchen Merkel dürfte bald per Stimmzettel bestraft werden, wenn sie dieses Bedürfnis nicht bedient.

Vierter Fehler: Handwerkliche Patzer passieren jeder Regierung – diese aber provoziert sie, weil sie die Realität ignoriert. Das Jahr 2007 wird sehr bitter für die Koalition. Experten haben längst errechnet, dass dann allein bei den Krankenkassen die Beiträge um einen Prozentpunkt steigen müssen. Auch für die Rentenkassen reicht es nicht, den Beitragssatz von jetzt 19,5 auf 19,9 anzuheben. Die hoch symbolische 20 vor dem Komma wird sich nicht vermeiden lassen. Bei der Pflege fehlen weitere Milliarden.

Doch kein Wort dazu von Merkel. Sie kündigte stattdessen optimistisch an, „die Lohnzusatzkosten dauerhaft unter der Belastungsgrenze von 40 Prozent zu halten“. Falls sie dies ernst meint, müsste sie die Defizite bei den Kassen mit Steuern ausgleichen. Doch auch das hat sie ausgeschlossen: Die „Zuschüsse an die Sozialversicherungssysteme werden begrenzt“.

Selbst die Grünen erliegen Merkels Charme. Kein Wunder, sie wollen beliebig koalitionsfähig werden

Amüsant dürften auch die Haushaltsdebatten werden. Bis 2009 will die Regierung Staatsvermögen in Höhe von 54 Milliarden Euro verkaufen. Diese enorme Summe ist verwunderlich, denn Exfinanzminister Hans Eichel (SPD) ging noch im Sommer davon aus, dass das veräußerbare Bundesvermögen maximal 32 Milliarden Euro beträgt. Aber was sind schon Zahlen. Schließlich werden auch andere alarmierende Daten ignoriert. Die Wirtschaftsweisen haben erst kürzlich prognostiziert, dass die sozialversicherungspflichtigen Stellen nächstes Jahr um weitere 200.000 schrumpfen. Nur noch etwa 26 Millionen regulär Beschäftigte werden übrig bleiben, die aber die meisten der rund 82 Millionen Deutschen sozial absichern sollen. Das kann nicht funktionieren.

Es wäre also überraschend, wenn diese große Koalition bis 2009 durchhält. Noch allerdings herrscht freudiger Optimismus. Die Fotos in den Zeitungen bilden Merkel momentan ab, als würde eine gütige Fee zu den Deutschen herabschweben und sie mit einem blauen Augenaufschlag erlösen.

Dem Charme der Suggestion sind auch die Grünen erlegen. Sie wirken momentan geradezu geblendet von der Option, sich der CDU anzunähern und damit endlich beliebig koalitionsfähig zu sein. Taktisch ist gegen dieses Kalkül gar nichts zu sagen, nur abstrahiert es von der Realität. Mehrheiten sind mit der CDU-Rhetorik nicht zu erzielen, das wird auch die SPD noch entdecken. Merkel ist zwar Kanzlerin, aber sie passt nicht zu den Deutschen. Welch Überraschung.

ULRIKE HERRMANN