„Es wurde eine Art Traumaindustrie angekurbelt“

ZEITGESCHICHTE Svenja Goltermann hat die Leiden der Heimkehrer in die deutsche Nachkriegsgesellschaft untersucht. Niemand kam damals auf die Idee, die Soldaten als traumatisiert zu beschreiben. Nicht mal die Soldaten selbst. Ein Gespräch mit der Historikerin über Gewalterfahrungen, das SED-Regime und den Bundeswehr-Einsatz in Afghanistan

■ Jahrgang 1965, ist Privatdozentin am Historischen Seminar der Universität Freiburg. Sie studierte Geschichte und Spanisch. Für ihr Buch wurde sie mit dem deutschen Historikerpreis 2008 ausgezeichnet.

INTERVIEW SABINE SEIFERT

taz: Frau Goltermann, Sie haben für Ihr Buch psychiatrische Akten von ehemaligen Wehrmachtssoldaten ausgewertet. Haben sich die Kriegsheimkehrer selbst in die Psychiatrie einweisen lassen?

Svenja Goltermann: Man sollte vorwegsagen, dass die Kriegsheimkehrer nicht in die Psychiatrie gegangen sind, weil sie dachten, dass ihre Störungen eine Folge des Krieges sind. Sie suchten eine Begründung dafür, warum sie sich selber plötzlich so verändert fühlten. Die Mehrzahl der Fälle wurde von ihren Familien in die Psychiatrie gebracht.

Es macht ja einen Unterschied, ob man aus der inneren Not heraus den Weg in die Psychiatrie wählt oder ein psychiatrisches Gutachten für eine Kriegsopferrente braucht.

Richtig. In den allerersten Nachkriegsjahren stellte sich die Frage noch gar nicht. Die Kriegsopferrente wurde erst 1950 bundeseinheitlich geregelt. Die Kriegsheimkehrer, die nach 1950 in die Psychiatrie kamen, erzählten tatsächlich überwiegend in einer ganz anderen Form. Sie wussten genau, welche Diagnosen anerkannt wurden.

Sie schreiben in Ihrem Buch, die Nachkriegsgesellschaft habe sich eben nicht durch Verdrängen ausgezeichnet, weil die Gewalterfahrung des Krieges bei den ehemaligen Soldaten und ihren Familien sehr präsent war. Kann man das einfach so auf den Rest der Bevölkerung übertragen?

Ich würde nie sagen, dass es für den gesamten Rest der Gesellschaft galt. Was ich aus den Akten heraushole, sind narrative Überlieferungen, Erinnerungsfragmente, die im öffentlichen Diskurs nicht auftauchten. Manche Familien werden andere Wege gefunden haben, mit den psychischen Beschwerden ihrer Angehörigen umzugehen.

Und da haben die Psychiater dann gesagt, „tut uns leid, wir können diesen Zusammenhang zwischen Krieg und psychischen Auffälligkeiten nicht herstellen“? Es ist frappierend, dass trotz der Erfahrung von zwei Weltkriegen die psychiatrische Lehrmeinung einer grenzenlosen seelischen Belastbarkeit des Menschen nicht erschüttert wurde.

Diese Betrachtungsweise finden Sie in ganz Europa. Auch in den USA. Dort war zwar die Psychoanalyse viel verbreiteter, aber die Psychoanalyse sucht den Grund in der frühen Kindheit. Die Diagnose der Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) ist erst in den letzten Jahren des Vietnamkriegs entstanden, als es eine breite Anti-Vietnamkriegs-Bewegung gab.

Es ist uns heute völlig fremd, dass der Krieg nicht mit den Leiden der Menschen in Zusammenhang gebracht wurde.

Ja. Aber wenn wir die Nachkriegsjahre begreifen wollen, müssen wir das zur Kenntnis nehmen. Selbst die Opfer des Nationalsozialismus sahen über Jahre die Verfolgung nicht als Ursache ihrer psychischen Beschwerden an. Das galt sogar für Staaten wie Israel. Es gibt ein sehr schönes Buch von Ruth Leys, die der Entstehung der Diagnose der Posttraumatischen Belastungsstörung am Ende des Vietnamkriegs nachgegangen ist. Da wurden alle anderen, also auch die Holocaust-Überlebenden, mit hineingelesen, so dass wir heute den Eindruck haben, die Diagnose sei in Zusammenhang mit den Holocaust-Überlebenden entstanden.

„Man sollte nicht den Fehler begehen zu sagen, weil die Wehrmachtssoldaten selbst Gewalt ausgeübt haben, können sie keine psychischen Langzeitfolgen davongetragen haben“

Einerseits war das Traumakonzept ja ein Fortschritt, weil es das sehr naturwissenschaftlich geprägte Menschenbild veränderte. Andererseits führte es zu einer Art Pauschalisierung sehr unterschiedlicher Leiden. Auch die Erfahrungen von Kriegsheimkehrern und NS-Verfolgten können doch nicht gleichgesetzt werden?

Zweifellos sind die Ergebnisse der Traumaforschung sehr wichtig. Als Historikerin sehe ich aber, dass in die Diagnosefindung und -etablierung immer politische Interessen und moralische Wertsetzung eingehen. Insofern interessiert mich mehr, welche Art von moralischen Wertsetzungen eigentlich dazu führen, dass eine neue Diagnose entsteht. Und welche Auswirkungen hat die Etablierung einer neuen Diagnose dann wieder darauf, wie wir historische Ereignisse wahrnehmen?

Ist es deshalb schwierig, den Begriff Traumatisierung rückwirkend auf die Nachkriegsgesellschaft zu übertragen?

Wenn wir pauschal von Traumatisierung sprechen, wird vieles wieder zugedeckt. Dann geraten all diejenigen aus dem Blick, die deshalb litten, weil sie etwa dachten, sie hätten im Krieg versagt, oder denen schlicht der soziale Abstieg zu schaffen machte. Es macht jedenfalls einen kolossalen Unterschied, ob Sie ohne oder mit Traumadiagnose auf die Nachkriegszeit zurückblicken. Das ruft ganz andere Bilder vom Krieg auf. Im Übrigen wurde mit der Etablierung der Traumakategorie in den 80er-Jahren eine Art Traumaindustrie angekurbelt, die dazu geführt hat, dass immer mehr Gruppen ihren Opferstatus anerkannt haben wollen und deswegen auf die psychischen Folgen dieser Ereignisse ganz besonders Wert legen. Das heißt, die Anerkennung eines Traumas ist auch zum Prüfstein geworden für die Anerkennung eines Opferstatus. Und die Zahl der Opfergruppen hat sich seither vervielfacht. Es führt im Grunde zu einer Art von Nivellierung, die dem historischen Zusammenhang nicht unbedingt gerecht wird.

Was heißt das auf die Wehrmachtssoldaten bezogen?

Man sollte sicher nicht den Fehler begehen zu sagen, weil die Soldaten selbst Gewalt ausgeübt haben, können sie keine psychischen Langzeitfolgen davongetragen haben. In einer historischen Analyse ist dennoch der einzige Weg, sich dem Phänomen zu nähern, sich ihre Form der Selbstbeschreibung und -deutung anzuschauen. Meine These ist ja, dass es Ende der 40er-Jahre völlig andere Selbstbeschreibungen gibt, weil es die Kategorie des Traumas gar nicht gab. Das hat Auswirkungen darauf, wie die Menschen mit sich und anderen umgingen.

Sind die Posttraumatischen Belastungsstörungen denn wirklich richtig erforscht worden? Die Diagnose spielt ja auch heute – siehe Afghanistaneinsatz oder Irakkrieg – eine bedeutende Rolle.

■ Das Thema spielte Jahrzehnte weder in der Öffentlichkeit noch in der Wissenschaft eine Rolle: Svenja Goltermann untersucht edie Nachwirkungen des Krieges im Leben der Heimkehrer und ihrer Familien. Dazu wertete sie bislang unbenutztes Quellenmaterial aus der Psychiatrie aus und holt in einem großen Bogen zu einer deutschen Psychiatriegeschichte aus, die sich bereits nach dem Ersten Weltkrieg mit dem Phänomen der Kriegszitterer auseinandersetzen musste. Erst in den 60ern wandelte sich das Menschenbild, das von einer grenzenlosen seelischen Belastbarkeit des Menschen ausging.

■ Svenja Goltermann: Die Gesellschaft der Überlebenden. Deutsche Kriegsheimkehrer und ihre Gewalterfahrungen im Zweiten Weltkrieg. DVA, 592 Seiten, 29,95 Euro

In jedem Fall findet die Diagnose der Posttraumatischen Belastungsstörung in der Öffentlichkeit große Anerkennung. Bei den aus Afghanistan zurückgekehrten Bundeswehrsoldaten sind die Zahlen in letzter Zeit jedenfalls in die Höhe gegangen. Das heißt ja nicht, dass viel mehr Soldaten als früher mit Störungen wiederkommen, sondern das heißt zunächst mal nur, dass sie anders diagnostiziert werden. Sollte sich eine breitere Bewegung gegen den Afghanistaneinsatz entwickeln, spricht vieles dafür, dass diese das Argument, dass psychische Langzeitfolgen die Folge sein können, aufgreifen wird.

In dem Moment würde die Diagnose Posttraumatische Belastungsstörung zur politischen Waffe. Wie damals beim Vietnamkrieg.

Richtig. Interessanterweise wird nur selten ein Wort darüber verloren, dass neben deutschen Soldaten auch afghanische Zivilisten an psychischen Auffälligkeiten oder Störungen leiden könnten. Man sieht daran deutlich, dass auch hier wieder über einen Opferstatus verhandelt wird. Die Bundeswehrsoldaten erscheinen deshalb im öffentlichen Diskurs als die Opfer der militärischen Konfrontation, kaum aber afghanische Zivilisten.

Sollte man also die Traumakategorie vermeiden?

Wenn es um die historische Analyse der Nachkriegszeit geht, ja. Außerdem sollte man sich über die moralischen und politischen Implikationen genauer klar werden. Ein ganz ähnlicher Fall sind die Opfer des SED-Regimes. Ich will nicht in Abrede stellen, dass es viele Menschen gibt, die schwer gelitten haben. Aber die Zahl der Menschen, die heute eine Posttraumatische Belastungsstörung geltend macht und dadurch als Opfer des SED-Regimes gilt, ist enorm gestiegen. Ob das noch der historischen Wirklichkeit entspricht, wird man sich genauer angucken müssen. Ebenso dass dadurch eine Nivellierung zwischen Opfern des SED-Regimes und des NS-Regimes eintreten wird. Und in dieser Zuschreibung des allgemeinen Opferstatus wird verloren gehen, dass es viele Menschen gab, die das DDR-Regime durchaus gestützt haben. Die Posttraumatische Belastungsstörung macht alle zu Leidenden.