Buch zu Nachkriegsvertreibungen: Die Front weicht auf
Ray M. Douglas präsentiert eine Studie über die Vertreibung von Deutschen nach 1945. „Ordnungsgemäße Überführung“ ist nicht in allem gelungen.
Ray M. Douglas ist Professor an einer kleinen US-Universität. Er spricht leise und distinguiert, das Eifern liegt ihm fern. Er hat ein Buch über die Vertreibung der Deutschen nach 1945 geschrieben, das vor ein paar Jahren wohl noch für eine ordentliche historische Grundsatzdebatte gesorgt hätte.
Der Exodus aus Schlesien, Pommern und dem Sudentenland hält er für das „am besten gehütete Geheimnis des Zweiten Weltkriegs“. Ein Tabu also, so wie es die Vertriebenenfunktionäre seit Jahrzehnten behaupten?
Die Vertreibung von zwölf Millionen Deutschen war, so Douglas, „einer der größten Fälle massenhafter Menschenrechtsverletzungen in der modernen Geschichte“ und, so wörtlich in der Studie „Ordnungsgemäße Überführung“ „ein demographisches Experiment von historisch beispiellosem Ausmaß“. Historisch beispiellos und ein Geheimnis?
Man zuckt angesichts solcher Superlative instinktiv zurück. In Douglas’ Buch finden sich Fotos von zu Gerippen abgemagerten deutschen Kindern, die 1945 unter barbarischen Verhältnissen in der Tschechoslowakei und Polen in Lagern interniert waren. Werden die Deutschen kollektiv als Opfer inszeniert und entschuldigt? Hat Erika Steinbach einen neutral wirkenden Fürsprecher ihrer Sache rekrutiert?
Wohlwollende Kritiken
Bemerkenswert ist, dass „Ordnungsgemäße Überführung“ schon im Frühjahr bei C. H. Beck erschien und in den Leitmedien für historisch korrektes Erinnern durchweg mit wohlwollenden Kritiken in mittlerer Temperaturlage bedacht wurde. Das Thema deutsche Vergangenheit scheint nur noch bedingt skandalisierbar zu sein. Dass die Stiftung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ vor ein paar Tagen fast ohne öffentliches Echo ein Konzept für ihre lange hart umkämpfte Dauerausstellung präsentierte, passt ins Bild. Konsens überall.
Auch bei Douglas’ erstem Auftritt in Deutschland, im Deutschen Historischen Museum (DHM) in Berlin ging es moderat, geradezu britisch entspannt zu. Man tauschte freundlich Argumente aus. Der Historiker Michael Schwarz und Manfred Kittel, Leiter der Stiftung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ wirkten wie Ingenieure, die sich gemeinsam über einen kaputten Motor beugen.
Schwarz lobte zu Recht Douglas’ Kapitel über das Leid der Kinder, das von den Regierungen in Prag, London und Warschau systematisch in Kauf genommen wurde und bislang kaum beachtet wurde. Kittel lobte zu Recht Douglas’ „Adlerperspektive der allgemeinen Menschenrechte“ auf das Thema. In der Tat ist dieser Blick das Bestechende an der Studie. Vertreibungen, so das Schlüsselargument, sind immer brutal, blutig und willkürlich und daher mit keinem Konzept der Menschenrechte vereinbar.
Die Fokussierung auf die Menschenrechte ist der Unterschied zu Steinbach & Co – und einer ums Ganze. Douglas ist über den Verdacht erhaben, Nazi-Verbrechen ein bisschen relativieren zu wollen. Sein Motiv ist das Erschrecken, wie routiniert der britische Premier Churchill die organisierte Vertreibung schönte. Seine Kritik ist an den Westen adressiert, der mit den Vertreibungen eigene Humanitätsideale verriet (und nur nebenher und allzu grob an die westdeutsche Linke).
Profundes Misstrauen
Ray Douglas begann seinen Vortrag zudem mit einem aufschlussreichen Bonmot. Geschichte sei etwas, das Briten erinnern und Iren vergessen sollten. Daraus spricht ein profundes, aus irischer Leidenserfahrung geronnenes Misstrauen gegen Geschichte aus der Siegerperspektive, das den Grundton dieser Studie ausmacht.
„Ordnungsgemäße Überführung“ ist keineswegs in allem gelungen. Manche Formulierung ist – siehe oben – marktschreierisch. Der Tscheche Edvard Benes wird zum diabolischen mastermind aufgepumpt, als würden historische Werke notwendig Schufte brauchen. Auch, dass Douglas die Vertreibungen kategorisch zu einem nicht nur illegitimen, sondern auch komplett sinnlosen Verbrechen ohne jeden historischen Nutzen erklärt, verdient Fragezeichen, die in der allzu netten Debatte leider niemand setzen wollte. Wer weiß denn, ob die Wiedervereinigung 1989/90 mit zehn Millionen Deutschstämmigen in Polen und Tschechien nahe der deutschen Grenze so glatt verlaufen wäre?
Michael Schwarz erklärte die Aufmerksamkeit für Douglas recht einfach: „Er ist kein Deutscher.“ Der zurückhaltende Ire wirkt als Figur wie ein Art spiegelverkehrter Daniel Goldhagen. Wieder taucht die nervöse Frage auf, warum keinem deutschen Historiker das offenbar Naheliegende eingefallen ist. Allerdings wirkte Goldhagens Anklage gegen die Deutschen 1996, „Hitlers willige Helfer“, als Baumaterial für geschichtspolitische Unterstände, während Douglas letzte Frontverläufe aufweicht.
Was aber spricht gegen einen möglichen Erinnerungskonsens, der die zentrale Täterschaft der Deutschen als selbstverständlichen Fakt voraussetzt und alle Opfer einschließt? Nichts, gerade mit Blick auf die Zukunft. Denn die Frage ist berechtigt: Wie kann man in Deutschland ethnische Vertreibungen anderswo ächten, wenn man Zwangsumsiedlungen von mehr als zehn Millionen Deutschen stillschweigend gutheißt?
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