Vor der Urwahl zur Spitzenkandidatur: Was die grüne Seele will
Die „Seele“ der Grünen ist wichtig – gestreichelt und personifiziert wird sie von Claudia Roth. Oder ist das etwa gar nicht mehr so?
Im Marheineke-Kiez und also im Herzen des Berliner Stadtteils Kreuzberg hängen schwarze Plakate und werben für „Ton Steine Scherben“. Eine Ausstellung. Anlass: Es ist 40 Jahre her, dass „Keine Macht für Niemand“ veröffentlicht wurde, das bekannteste Album der Kreuzberger Band. In den Songs rief Sänger Rio Reiser Arbeiter, Studierende und alle anderen Guten zum Widerstand gegen U-Bahnkontrolleure, Lokalpolitiker, Ausbeuter und zur Überwindung („Aus dem Weg, Kapitalisten!“) des Systems auf.
Knapp vorbei ist auch daneben. Aber immerhin: Hier in Kreuzberg lebt heute eine grüne Mehrheitsgesellschaft – nicht mal jeder Zehnte wählt CDU. Hier regiert der Grüne Bürgermeister Franz Schulz. Hier hat man seinen Helden Hans-Christian Ströbele dreimal in Folge direkt in den Bundestag gewählt. Hier muss doch die Seele der Grünen atmen. Oder etwa nicht?
Die Seele der Grünen ist ein Begriff, der permanent bemüht wird. Die Seele der Partei, so der Eindruck, muss bedient werden, sie muss sich ausdrücken, sie darf nicht unglücklich gemacht werden, sie muss eins sein mit allen Beschlüssen und auch dem, wer Spitzenkandidat im Bundestagswahlkampf werden darf. Und so wird in unzähligen Artikeln und Gesprächen im Grunde gesagt, dass die Parteivorsitzende Claudia Roth diese Seele personifiziere und ihre Bedürfnisse in Parteigremien und Öffentlichkeit vertrete.
„Wir wollen Gutmenschen sein!“
Aber was treibt diese Seele der Grünen um? Daniel Cohn-Bendit, Fraktionsvorsitzender der EU-Grünen und Mitglied seit 1984, bringt ihr Sehnen auf einen Satz: „Wir wollen Gutmenschen sein!“ Vielleicht noch einen zweiten Satz? „Zuständig, dass das Leben besser wird.“ Zuständig? „Ja, zuständig“.
Demnach repräsentiert und verkörpert Roth diesen Wunsch und diese Zuständigkeit. Den linken Gründungsimpuls. Die Gefühle. Die Utopien. Die Menschenrechte. Die Genderfrage. Und vor allem die soziale Empörung. Die Empörung über Zustände, für die die anderen verantwortlich sind.
Wenn Roth dieser Empörung in Ton und Mimik Ausdruck verleiht, so lässt das die Seelen-Anhänger unglücklich und damit glücklich aufseufzen. Schlimm! Aber da hält eine den Nicht-mit-mir-Kurs, gerade auch gegen innerparteilichen Pragmatismus, Chauvinismus oder schnöde Verbesserung der Wahlchancen, was die Soulsisters and -brothers immer als Anpassung und Niedergang verspüren.
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Roths Kunst bestand aber darin, dass sie einst auch das pragmatische oder womöglich opportunistische Regierungshandeln unter Ächzen seelenverträglich machte. Wenn sie vom Chef in einem mehrstündigen Privatissimum entsprechend bearbeitet worden war.
Roths Parteigegner leiden selbstredend auch und vor allem an Roths authentischen Strategien, in denen sie die verkorksten Deformationen einer Partei erkennen, die teilweise immer noch gefangen ist in dem absoluten und damit politikunfähigen Moralismus der Gründerjahre.
Trittin: Kühl, fachlich, ideologiefrei
Jürgen Trittin, der Fraktionsvorsitzende, Exminister und zweite Spitzenkandidaturkandidat, verkörpert den professionalisierten altlinken Grünen: Unsentimental, kühl, fachlich, inzwischen ideologiefrei. Jedenfalls, solange man politische Inhalte wie die Absage an Atom, Kohle und (falsch verstandenen) Keynesianismus nicht als Ideologie versteht. Trittin, heißt es, sei das Hirn der Grünen. Er will Finanzminister werden! Schlimm. Die Seele liebt ihn nicht.
Die Seele liebt auch die dritte Kandidatin Renate Künast nicht mehr, Arbeiterherkunft hin, Verbraucherschutz her. Künast wollte in Berlin regieren und das mag die Seele schon mal gar nicht, denn sie ist qua 68er-Adoleszenz zwar an der Ablösung der Herrschenden interessiert, doch aufgrund ihrer Feinfühligkeit nicht im Stande, den Platz der Herrschenden einzunehmen. Sie ahnt: Regieren in der richtigen Welt schadet der Seele, und macht aus ihrer Reinheit einen schmutzigen Kompromiss mit der Mehrheit und der Realität. Schlimm.
Ganz schlimm wird es für die Seele, wenn dann auch noch mit der CDU koaliert werden soll – nur weil es für andere demokratische Mehrheiten nicht reicht. Dieses urdemokratische Denken nicht auszuschließen, hat man Künast vor allem in Kreuzberg übel genommen. Und selbstverständlich, dass sie Häuser dämmen wollte. Das ist zwar Programm, aber die Seele der Grünen will letztlich nicht, dass Häuser gedämmt werden. Der Berliner Grünen-Vorläufer Alternative Liste, 1978 von Ströbele gegründet, hieß zwar „AL für Demokratie und Umweltschutz“, war aber prioritär eine soziale Bewegung. Und eine moralische.
So ist auch die authentisch-strategische Positionierung als obermoralische Opposition innerhalb der moralischen Opposition zu verstehen, die die Kreuzberger Grünen im Abgeordnetenhaus bis zur ultimativen Absurdität – der Gründung einer „Parlamentarischen Linken in der Grünen-Fraktion“ – pflegten. Aber keiner hat das so raffiniert auf den Punkt gebracht wie Altmeister Ströbele anno 2002 mit seinem legendären Wahlplakat: „Ströbele wählen, Fischer quälen.“
Die Bewahrung der Utopien, also der Vorstellung, wie es schön links wäre, und die gleichzeitige Bestrafung eines vermeintlich vom Weg abgekommenen, angepassten, karrieregeilen, bellizistischen Chefs und Außenministers der eigenen Partei: Das ist Political Correctness vom Feinsten, das ist gelebter Widerstand, dafür hagelte es grüne Seelen-Stimmen.
Kreuzberg? Eine Ökowüste!
Dass Kreuzberg eine Ökowüste ist, verdankt man auch den dort herrschenden Grünen. Reale energetische Moderne kann schließlich als Konflikt mit dem traditionellen Sozialanspruch interpretiert werden. Das böse G-Wort: Gentrifizierung. Die Grünen misstrauen sich da lieber. Motto: Im Zweifel lieber nicht grün. Das sehen die Wähler auch so. Eine nicht lebensgefährliche Fahrrad-Infrastruktur? Wär’ schon gut, aber: Wer weiß, wohin das führt.
Oder warum fehlt hier in der Grünen-Hochburg die ökologische Dimension? „Das weiß ich auch nicht“, sagt Volker Ratzmann. Er war lange Fraktionsvorsitzender der Grünen im Berliner Abgeordnetenhaus und Lieblingsfeind der Kreuzberger Grünen. Jetzt ist er bundespolitischer Koordinator des grünen Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann. Gerade sitzt er vor der Kreuzberger Marheinekehalle. Unter einem TonSteineScherben-Plakat.
„Nach meinem Geschmack müsste eine fast hegemoniale grüne Macht viel mutiger sein, gesellschaftliche Diskurse jenseits von ideologischem Schwarz-Weiß-Denken anstoßen“, sagt er. „Gentrifizierung, Verdichtung und Ökologie, Mobilität, Wachstum im städtischen Raum, Bildung, Sicherheit und Integration, das brennt doch allen auf den Nägeln.“ Brennt es eben nicht. In Kreuzberg hat die liebe grüne Seele ihre Ruhe gefunden.
Aber vielleicht stimmt das ja alles längst nicht mehr, die grüne „Basis“ ist gar nicht mehr so und die Seele der Partei hat sich weiterentwickelt, ohne das als permanenten moralischen Verfallsprozess zu verstehen.
Nehmen wir Boris Palmer, sicher der grünste Spitzen-Grüne, wenn man unter grün die ökologische Transformation versteht. Palmer ist Jahrgang 1972 und ging nicht zu den Grünen wegen 1968, Hausbesetzungen oder weil ihn seine K-Gruppe anödete, sondern um realpolitisch an der ökologisch sozialen Transformation zu arbeiten. Das schien kurzfristig mal auf eine minimale Beteiligung seiner Tübinger Stadtwerke an einem Kohlekraftwerk rauszulaufen. Schlimm. Mit der Seele ist das nicht zu machen (außer in NRW).
Aber wie dann sonst? Details der künftigen Energieversorgung sind der Seele egal, so jedenfalls nicht. Oder Palmers Hinweis im Länderrat unlängst, dass es in der echten Welt für eine Energiewende Stromerzeuger brauche und man sich auch um die kümmern müsse. Unternehmer? Heikel.
„Die Seele der Partei ist der Verstand“
Palmer ist definitiv nicht Bestandteil der alten Parteiseele. Also braucht er eine neue. „Die Seele der Partei ist der Verstand“, sagt er aus einem fahrenden Zug heraus. Und wartet von Nürtingen bis Reutlingen auf Resonanz. Als nichts kommt, fragt er: „Gefällt Ihnen nicht?“
Die Seele der Grünen ist der Verstand? Na, das wäre aber ein gehöriger Paradigmenwechsel. Doch, sagt Palmer, der Satz gelte definitiv für die Baden-Württemberg-Grünen. Weshalb die vermutlich anderenorts auch skeptisch gesehen werden.
„Die Seele der Partei“, sagt an einem anderen Tag in einer anderen Stadt ein weitgereister Fahrensmensch der Regierungsjahre, „sind heute die, die die alten herumwabernden Identitäten mit einer klaren Vorstellung von der Gegenwart verknüpfen.“ Euro, Griechenland, Energiewende. Der schleswig-holsteinische Energiewendeminister Robert Habeck sei so einer. Als die Rede auf Claudia Roth kommt, sagt er, es gehe ihm nicht um „Frau Roth“. Er sieht plötzlich aus, als habe er Zahnschmerzen.
Tatsächlich kommt er gerade vom Zahnarzt, und es kann gut sein, dass die Betäubung abrupt nachgelassen hat. Ein anderer innerparteilicher Skeptiker sorgt sich nicht nur, dass „Frau Roth“ in einem Ministerinnenamt endet, sondern auch, dass sie in einem harten Wahlkampf irgendwann in einer Talkshow in Tränen ausbrechen und also das Ganze seelisch nicht verkraften könnte. Sie wird im Anti-Roth-Lager, von dem man durchaus sprechen muss, gern und auffällig formal „Frau Roth“ genannt. Der Begriff „Rührungstante“ fällt aber auch immer noch.
Jedenfalls wird die Urwahl zur Bestimmung der grünen Spitzenkandidaten auch eine Beantwortung der Frage, wie sich die Grünen im Jahr 2012 sehen und wie sie gesehen werden wollen. Und da kommt Kandidatin Nummer vier ins Spiel, die stellvertretende Bundestagsvorsitzende Katrin Göring-Eckardt. Die versteht sich auch als soziales Gewissen der Grünen bis hin zur sozialen Dimension der Energiewende. Und als Verkörperung eines anderen Politikstils. Sie inszeniert das aber nicht mit dem Wir-gegen-Die-Pathos der letzten Managerin von TonSteineScherben (Claudia Roth).
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