Das Geschäft mit den Geiseln

Kidnapping ist professionell organisiert. Es ist schwer, ihm zu entgehen. Geiseln können jedoch vom Meistbietenden ausgelöst werden, unabhängig von deren Ideologien

VON KARIM EL-GAWHARY

Die Szene der irakischen Geiselnehmer ist äußerst unübersichtlich. Es gibt über ein Dutzend mit Namen bekannter politischer Gruppen, die Entführungen für ihre Zwecke benutzen. Immer wieder tauchen neuen Namen dieser Gruppen auf, alte verschwinden wieder in der Versenkung. Manche treten mehrmals in Erscheinung. Dazu treiben zahllose kriminelle Gruppen ihr Unwesen. Nicht zuletzt, da der ehemalige Diktator Saddam Hussein in den Tagen vor seinem Sturz die Gefängnisse öffnete.

Inzwischen hat sich im Irak eine regelrechte Entführungsindustrie gebildet. Die eigentlichen Verschleppungen werden natürlich nicht von den politischen Gruppen selbst vorgenommen, sondern „outgesourced“. Die Opfer werden zunächst von gewöhnlichen Verbrechern verschleppt und dann weiterverkauft. Dabei existiert eine regelrechte Preisliste. Den höchsten Preis erzielen Staatsbürger jener Länder, die Truppen im Irak stationiert haben. Seit mehr als einem Jahr sind ganz besonders weibliche Opfer gefragt, wohl wissend, dass dabei der Effekt auf die Öffentlichkeit des Heimatlandes des Opfers noch größer ist. Am höchsten wird eine Frau mit US-Pass gehandelt. Letztes Jahr soll für eine Amerikanerin eine Viertelmillion Dollar geboten worden sein – eine Art Geiselbörse ist entstanden. Man kann die Geiseln einlösen und in Bargeld umwandeln, oder sie eine Weile behalten und warten, bis der Preis steigt.

Das Problem wurde dadurch verschärft, dass der Entführungsmarkt sich zunehmend professionalisiert hat und es immer schwerer wird, ihm auszuweichen. Von Vorteil ist, dass Geiseln von jedem ausgelöst werden können, der sich als Meistbietender erweist, unabhängig von seinem ideologischen Hintergrund – eine Chance für Regierungen und Unternehmen, deren Mitarbeiter verschleppt wurden, wenn sie davon rechtzeitig erfahren. Firmen und Regierungen sollten auf den Ernstfall bereits vorbereitet sein, um entsprechend schnell mit einer Vorkasse reagieren zu können, bevor ein Krisenstab zusammengestellt sein wird, der vielleicht zögerlich Entscheidungen trifft.

Am Ende der Kette des Weiterverkaufes stehen aber meist militante islamische Gruppen. Wird eine Geiselnahme bereits im ersten Entführungsstadium bekannt, besteht oft noch eine reale Chance, die Geisel meistbietend zurückzukaufen. Bei den heiligen Kriegern ist aber in der Regel Endstation. Sie sind am Ende die Einzigen, die langfristig das erhebliche Risiko eingehen, eine Geisel, die viel öffentliche Aufmerksamkeit auf sich zieht und auch von anderen Gruppen gesucht werden könnte, zu verstecken. Und sie haben anders als die kriminellen Gruppen Interesse an möglichst breiten „Public Relations“.

Grundsätzlich gilt: Niemand ist im Irak sicher. War es nach dem Irakkrieg noch eine Versicherungspolice, möglichst unauffällig durchs Land zu reisen, besitzt die Guerilla inzwischen überall ihre Informanten, sei es unter Hotelangestellten, irakischen Mitarbeitern von Hilfsorganisationen oder selbst in der irakischen Polizei. Mehrmals fanden Entführungen an vermeintlichen Polizeistraßensperren statt, bei denen die Entführer in Uniform und mit Polizeiwagen ihre ahnungslosen Opfer angehalten haben. Für Ausländer kann die Faustregel aufgestellt werden: Je länger man sich im Irak aufhält, desto größer die Wahrscheinlichkeit, gekidnappt zu werden. Ein Entführungsopfer kann jeder werden, davor schützt weder Pass noch Religion.

Die Entführer kümmern sich zunächst nicht um die politischen Ansichten des Opfers, ob jemand für oder gegen den Irakkrieg war, ob der Ausländer aus Idealismus oder zwecks Solidaritätsbekundung gegen die Besatzungspolitik in den Irak gekommen ist. Einsätze für Hilfsorganisationen, wie die der Deutschen Susanne Osthoff, machen die Ausländer nicht nur in Kreisen bekannt, denen sie helfen wollen, sondern auch unter der Guerilla. „Sie machen vielleicht viele Jahre nichts mit dir, aber dann erinnern sie sich an diesen westlichen Staatsbürger, wenn sie eine Geisel brauchen“, sagt ein westlicher Sicherheitsexperte mit Irakerfahrung ohne jegliche Verbindung zum Militär.

Selbst wer versucht, im Irak weitgehend unauffällig zu operieren und sich neutral verhält, riskiert mit zunehmender Zeitdauer, entführt zu werden. Nicht weil Ausländer ihr Verhalten ändern, sondern weil sich die Situation um sie herum verändert. „Der Marktwert steigt automatisch, je weniger Ausländer sich noch im Land befinden“, sagt der Sicherheitsexperte.

Einzelheiten darüber, was nach einer Entführung geschieht, sind vor allem durch Gespräche mit den glücklich Freigelassenen bekannt. Der französische Journalist George Malbrunot, der zusammen mit seinem Kollegen Christian Chesnot vier Monate in den Händen der „Islamischen Armee“ im Irak verbrachte, hat seine Erfahrungen nach seiner Freilassung im Dezember 2004 immer wieder in Interviews geschildert. Auffällig sei gewesen, sagt er, wie gut die Entführer über ihre Opfer informiert waren. Dabei bedienen sie sich vor allem zunächst des Internets und „googeln“ die Opfernamen. Die dort gefundenen Informationen werden dann in Verhören überprüft. Die Franzosen wurden mehrmals professionell, wahrscheinlich von ehemaligen Mitarbeitern Saddam Husseins berüchtigter Geheimpolizei vernommen, die inzwischen zu den Islamisten übergelaufen sind.

Oft wird ein Videoband aufgenommen und an arabische Fernsehstationen weitergegeben. Die Reaktion darauf wird genauestens im Internet und über die arabischen Fernsehstationen überprüft.

Die Entführer Malbrunots haben mit ihm immer wieder die Reaktionen der französischen Regierung aber auch der französischen Öffentlichkeit diskutiert und waren darüber bestens informiert. Besonders beeindruckt zeigten sich die Entführer damals über Demonstrationen französischer Muslime für die Freilassung des Journalisten. „Die Mobilisierung ist enorm wichtig, um zu zeigen, dass die Geiseln nicht vergessen sind“, sagt Malbrunot.

Auch die öffentliche Reaktion der Regierung wird unter die Lupe genommen. „Wenn die sagt, die verhandeln nicht mit Terroristen, dann ist für sie der Fall beendet“, glaubt Malbrunot. Die ersten Verhandlungen liefen damals über den französischen Botschafter in Bagdad kurioserweise per E-Mail. Unklar ist bis heute, ob Geld geflossen ist und ob eine französische Versicherung, auch in Zukunft keine Truppen im Irak zu stationieren, am Ende zur Freilassung beigetragen hat.

Eine Regierung, die verhandeln muss, greift zunächst auf Kontaktlisten von Gruppen zurück, die als Vermittler in solchen Fällen zur Verfügung stehen. Experten empfehlen, die Entführung zu rekonstruieren, um herauszubekommen, wie professionell die Geiselnehmer sind. Man versucht zudem, Zeugen zu finden, Kontakt zu lokalen Geistlichen aufzubauen oder zu anderen Gruppen wie beispielsweise der „Vereinigung Muslimischer Rechtsgelehrter“. Ansonsten bleibt nur abzuwarten, bis die Entführer selbst Kontakt aufnehmen.

Diese erklärten dem damals Entführten Malbrunot: „Wir haben drei Gegner: die Koalitionstruppen, alle die mit ihnen kollaborieren und die irakische Polizei.“ Abhängig davon, wen sie im Visier haben, wird entschieden, ob die Geiseln unmittelbar freikommen, exekutiert werden oder ob sie als Verhandlungsmasse dienen. Angehörige von Ländern, die Truppen im Irak stationiert haben, werden meist direkt einem „Islamischen Gericht“ übergeben und sofort exekutiert. Bei der deutschen Geisel spricht einiges dafür, dass über sie ernsthaft verhandelt wird. Das Ansehen der Deutschen war im Irak Saddam Husseins aufgrund der deutschen Kriegsgegnerschaft hoch. Überdies ist die verschleppte Deutsche Muslimin. Gegen sie spricht, dass die Entführer Hilfsorganisationen, wie jene, für die Osthoff gearbeitet hat, als Unterschlupflöcher für Spione ansehen. Als Verhandlungsgegenstand dient offensichtlich das deutsche Engagement bei der Ausbildung der irakischen Polizei.

„Sabr dschamil“ – „Geduld ist schön“, erklärten die Entführer Malbrunots damals. Das wäre das Beste, was auch die arabisch sprechende Osthoff zu hören bekommen könnte. Es war die Umschreibung der Geiselnehmer dafür, dass ihr Opfer nicht exekutiert wird.