Die Sehnsucht des Rappers nach Zuhause

HIPHOP Nicht finden, was man sucht: Auf seinem Soloalbum denkt Textor über das Verhältnis von Provinz und Hauptstadt nach

Die Gralshüter der reinen Lehre werden den diplomierten Kontrabassisten nicht in ihr Herz schließen

Wer ist ein Berliner? Muss man in zweiter, dritter, vierter Generation hier leben oder wenigstens selbst in der Stadt geboren sein? Genügt es, von den Eltern hierher verschleppt worden zu sein? Oder ist man schon qualifiziert, wenn man aus der Provinz hierher geflohen ist?

Die Frage scheint gerade wieder virulent zu sein, aber Henrik von Holtum hat auch keine Antwort darauf. Er ist vor sieben Jahren aus dem Schwäbischen nach Berlin gekommen. Vorher hatte er sich dort mit HipHop einen Namen gemacht. Als Rapper nannte er sich Textor, seine 1994 in Ulm gegründete Band hieß Kinderzimmer Productions. Die Band gibt es nicht mehr, aber von Holtum hat als Textor kürzlich sein erstes Soloalbum herausgebracht. Es trägt den Titel „Schwarz Gold Blau“, ist ganz großartig geworden und handelt davon, wie das ist, wenn man weggeht aus der Provinz, um etwas Besseres zu finden, aber in der großen Stadt auch nicht immer findet, was man gesucht hatte. „Die Sehnsucht nach Zuhause“, sagt von Holtum, „die wird in Berlin ja nicht kleiner.“

Die einen halten „Schwarz Gold Blau“ für ein Album über die Provinz, die anderen für ein Album über Berlin, erzählt von Holtum. Tatsächlich lassen sich für beide Lesarten gute Argumente finden. Die Platte, die ausdrücklich nicht als Konzeptalbum verstanden werden soll, beginnt mit einem Ausflug im Auto „die B 19 entlang, kein Gurt angelegt, auf dem Weg zur Großraumdiskothek“. Später begleiten wir den Erzähler auf den „Parkplatz vorm Schlecker-Markt beim Altglas-Container“. Dort schichten er und die Kumpels „Streichhölzer zu einem Turm und fackeln den dann ab und wünschten uns, wir würden was riskieren“.

Nachdem der Erzähler ein Risiko eingegangen ist, streift er durch seine neue Heimat, erlebt „Kreuzberger Nächte“, spaziert in „Weigandufer/Wildenbruch“ am Landwehrkanal entlang und fragt sich: „Weiß man, was man will, oder sucht, was man kann?“ Nun ist er da, aber noch lange nicht angekommen.

„Ich finde, Berlin hat einige Spuren hinterlassen auf dem Album“, sagt von Holtum per Telefon aus Tübingen. Am dortigen Landestheater arbeitet der 39-Jährige gerade. Er soll Schauspielern das Singen und Musizieren beibringen. Nur eine knappe Autostunde entfernt liegen die Orte seiner Jugend, die er mit „Schwarz Gold Blau“ mal singend, mal rappend wieder aufsucht.

Auch wenn von Holtum heute sein Geld vor allem mit Radiofeatures, Kompositionsaufträgen, als Theatermusiker, Toningenieur oder Dozent an der Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe verdient, ist natürlich auf seinem Soloalbum seine Vergangenheit als Rapper Textor deutlich zu hören. Das nervös vorwärtsdrängende „Sie kriegen uns nie“ mit seinem atemlosen Rap könnte auch von Kinderzimmer Productions stammen, und im grandiosen „Neu Ulm“ imitiert das Klavier die repetitive Monotonie eines HipHop-Beats, während von Holtum so lange die Namen deutscher Städte wie Hanau oder Hildesheim, Dinkelsbühl oder Lüdenscheid, Wunsiedel oder Wolfsburg wiederholt, bis ein Dada-Rap auf die deutsche Provinz entstanden ist.

Textor verwendet neben Geigen, Cello, Kontrabass, Klavier und Gitarre nur wenige Samples und Sounds aus dem Computer. Statt durch die HipHop-Geschichte spielt er sich quer durch seine musikalische Sozialisation, zitiert alte Schlager wie „Im Wagen vor mir“ oder „Kreuzberger Nächte“, Trio und Kraftwerk, Tocotronic und Die Sterne. „In der Nacht“ wäre in einem Kaffeehaus der zwanziger Jahre nicht aufgefallen, und spätestens in „Truckstop Bockenem“ mit seinem nervösen Streicher-Riff ist zu hören, dass von Holtum einst eine klassische Ausbildung an der Stuttgarter Musikhochschule abgeschlossen hat. Wie man das Ergebnis nennen soll, weiß aber auch von Holtum nicht. „Ich habe versucht, deutsche Songs zu machen“, sagt er, ausgehend von dem, was für ihn „der Geist des HipHop ist: sich nicht um Regeln zu scheren“.

Das Hin und Her zwischen den Genres war schon Kinderzimmer Productions zum Verhängnis geworden, die zwar vom Feuilleton gefeiert, von der HipHop-Szene aber meist ignoriert wurden. Ein Umstand, der Textor einst ziemlich mitgenommen hat. „Natürlich habe ich mich selbst als Rapper gesehen und Kinderzimmer Productions als HipHop, aber ich glaube, mittlerweile bin ich nicht mehr beleidigt.“ Das ist gut so, denn die HipHop-Szene ist, so sieht es nicht nur Textor, weitgehend zum „Spielfeld für Pharisäer“ verkommen. Die Gralshüter der reinen Lehre werden den diplomierten Kontrabassisten wohl auch weiterhin nicht in ihr Herz schließen. Dazu reißt „Schwarz Gold Blau“ zu konsequent alle Grenzen ein: Zwischen all den Genres, die er liebt, schafft sich Henrik von Holtum ein neues Zuhause. THOMAS WINKLER

■ 13. März, 21.30 Uhr, Gretchen