Wenn die Sprache versagt

KUNST Das Procedere der Disziplinierung: Eva Kotátková zeigt im Kunstverein Braunschweig ihr beeindruckendes „Theatre of Speaking Objects“

Die Erwachsenen treten als Exekutoren der gesellschaftlichen Ordnung auf

VON MAIK SCHLÜTER

„Der Mensch, im Knochenbau und in der Entwicklung dem Affen ähnlich, steht durch seine Vernunft, seine Sprache und seine Kultur ganz und gar vereinzelt da.“ Nüchtern und unsentimental beschreibt ein Lehrbuch der Zoologie und Somatologie aus dem Jahre 1947 die existenzielle Frage nach der Stellung des Menschen in der Welt. Um die faktische Kälte dieser Beschreibung zu verdeutlichen, wird der anthropologischen Kurzformel ein schematischer Aufbau des menschlichen Skelettes beigefügt. Auch der gezeichnete Röntgenblick zeigt nichts, auf das sich irgendeine Hoffnung projizieren ließe.

Wie in allen Lehrbüchern gibt es auch in dem fast siebzig Jahre alten Exemplar keine befriedigende Aussage über die Bestimmung des Menschen. Es ist leicht vorstellbar, dass eine Gesellschaft, die diese Erklärungen akzeptiert, auch in allen anderen Bereichen ihrer sozialen Organisation keinen individuellen und befreienden Konsens befördert, sondern alles dem Diktum des Funktionalen und Verbindlichen unterordnet.

In einem Exemplar dieses Buches findet sich aber eine Überarbeitung der 1982 in Prag geborenen Künstlerin Eva Kotátková. Sie hat die beiden Skelettzeichnungen übermalt und collagiert. Auf die knöchernen Torsi hat sie kleine Schwarz-Weiß-Bilder von nicht gerade glücklichen Kindergesichtern geklebt. Teile des Skelettes sind in Miniaturkäfige eingefasst (Speaking Library, 2012). Mit solch ganz einfachen Mitteln zeigt Kotátková in ihrer Ausstellung im Kunstverein Braunschweig, wie ein Körper, ein Individuum, verdinglicht und einer restriktiven Interpretation des Seins unterworfen wird.

Jedes Jahrzehnt kennt unterschiedliche pädagogische Konzepte. Gerade das 20. Jahrhundert mit seinen vielfältigen Entwicklungen, unter anderem in der Medizin, der Psychologie und der Pädagogik, bietet eine unüberschaubare Vielfalt an Therapien und Vermittlungsangeboten. Viele Ideen, die mitunter erst wenige Jahrzehnte zurückliegen, werden heute als unangemessen, brutal oder stumpfsinnig betrachtet. Kotátková bedient sich dieses Spektrums, sichtet Lehrbücher der Zoologie und Somatologie genauso aufmerksam wie Standardwerke der Erziehungswissenschaft und der Psychologie.

Oft werden die Ausführungen dort durch Illustrationen oder Fotografien ergänzt. Die Künstlerin schneidet diese Darstellungen aus und fügt sie zu Collagen zusammen. Man sieht darauf häufig Kinder, die irgendeinem Procedere der Disziplinierung unterworfen werden. Ihre Köpfe sind gefangen in kleinen Käfigen und die Füße sind mit imaginären Gewichten beschwert. Überall in diesen handwerklich perfekten Collagen gibt es Zeichen und Anweisungen, Pfeile, Fingerzeige, Ermahnungen und eingeritzte oder gezeichnete Begrenzungen. Die Erwachsenen treten als Exekutoren der gesellschaftlichen Ordnung auf.

Die Collagen haben deutliche Bezüge zu den avantgardistischen Vorbildern der 1920er Jahre. Aber anders als beim Konzept der affirmativen Visualisierung des neuen Menschen in seiner technischen Umwelt, wie es die russisch-konstruktive Variante der Collage häufig zeigt, widerspricht Kotátková einer scheinbar gelungenen sozialen Entwicklung. Ihre Arbeit ähnelt damit eher der von Hannah Höch, die seit den 1920er Jahren mit dadaistischer Wut die Zumutungen der Gesellschaft in eigenwilligen Collagen benannte.

Aber Kotátková ist in ihrem Vorgehen reduzierter, gleichsam konzeptueller und verbindet geschickt ihre Collagen mit raumgreifenden Installationen und Objekten. Daher lautet der schlüssige Titel ihrer Ausstellung im Braunschweiger Kunstverein auch „Theatre of Speaking Objects“. Die Menschen werden zu Objekten einer offiziellen Sprache, aber auch die Objekte selbst sprechen von ihrer Funktion. Oder wie es die Direktorin des Braunschweiger Kunstvereins, Hilke Wagner, treffend formuliert: „die Objekte bewegen sich zwischen Folterinstrument und Schutzmaßnahme“.

„Education Machines“ nennt Eva Kotátková ihre Skulpturen. Die Objekte haben aber auch einen konkreten Bezug zur Psychologie, die in der Therapie immer dann auf Objekte, Zeichnungen oder nonverbale Kommunikationsformen zurückgreift, wenn die Sprache versagt. Und da die Verbalisierung des emotionalen Spektrums häufig an ihre Grenzen stößt, gibt es alle Formen der gestalterischen, spielerischen und objektbezogenen Assoziationen in der modernen Therapie. Kotátková spricht aber auch vom Missverstehen: Erinnerungen werden ungenau wiedergegeben, Bedeutungen von einzelnen Aussagen falsch bewertet oder Auskünfte verweigert.

Der Braunschweiger Kunstverein zeigt ausschließlich neue Arbeiten von 2012/13. Das theatrale Moment steht bei fast allen Installationen im Mittelpunkt. Die Installation „Psychological Theatre“ (2013) vertont den mühsamen Prozess, einen konstruktiven Dialog zwischen einem verschüchterten Kind und einer Psychologin zu initiieren. Sprachfindung, Identität und (Selbst-)Verständnis werden als steiniger Weg von „Trial and Error“ gezeigt. Die Einsamkeit der Menschen, die zum Teil subtilen Formen der Gewalt im Sinne von An- und Einpassung in die Gesellschaft, aber auch ihre rührenden Versuche, durch Erzählung einander nahezukommen, stehen im Mittelpunkt der Arbeiten von Eva Kotátková. Vernunft, Sprache und Kultur erscheinen in diesem Theater der sprechende Dinge in erster Linie als Mittel Disziplinierung.

■ Kunstverein Braunschweig, bis 12. Mai