Liebe in Zeiten des Krieges

ZEITGESCHICHTE Marek Edelman war einer der Anführer des Aufstands im Warschauer Ghetto. „Die Liebe im Ghetto“ ist eine Art Vermächtnis

„Warum fragt mich niemand, ob es im Ghetto Liebe gab?“

MAREK EDELMAN

Als die Deutschen 1944 die Warschauer Altstadt von den Kämpfern der polnischen Heimatarmee „säuberten“, musste eine militärische Einheit, der sich Marek Edelman angeschlossen hatte, ihren Standort aufgeben. Marek Edelman war 1943 einer der Führer des Ghettoaufstands, in dem die Juden auf sich allein gestellt waren. Jetzt kämpfte er auf der Seite der Polen. Der Befehlshaber ordnete den Rückzug an. Die Stellung sollte ein schmächtiger ungefähr 12-jähriger Junge halten, der „Sperling“ genannt wurde und der den Männern Deckung geben sollte. Der Junge weinte. Er hatte Angst. Da erschoss ihn der Kommandant wegen Befehlsverweigerung.

Es gibt viele solche erschütternden Begebenheiten, die Marek Edelman erzählt und die Paula Sawicka in „Die Liebe im Ghetto“ aufgeschrieben hat. Dabei kommt Edelman weitgehend ohne die Adjektive schrecklich und furchtbar aus, weil die Ereignisse, von denen er erzählt, für sich sprechen.

Der Warschauer Ghettoaufstand war die größte wirklich bedeutende und gelungene Widerstandsaktion der Juden gegen die Deutschen. Marek Edelman ist kein Schriftsteller oder Historiker. Er hat außer einer kleinen Broschüre, die bereits 1945 erschien, um Zeugnis abzulegen über etwas, worüber ganz schnell niemand mehr etwas wissen wollte, nie darüber geschrieben, nur erzählt. Hanna Krall hat schon 1980 seine Erzählung in Worte gefasst, und am Ende hat Paula Sawicka noch einmal die Erinnerungen des im Oktober 2009 verstorbenen Neunzigjährigen geweckt. Und sie hat durch ihren sehr reduzierten und fast schon lakonischen Erzählton große Literatur geschaffen.

Marek Edelman maß sich keineswegs eine besondere Bedeutung bei. Wenn er interviewt wurde, sagte er gerne: „So viel Lärm, nur weil ich zwei Wochen auf den Dächern rumgesprungen bin …“ Nachdem er mit einigen anderen Kämpfern das Ghetto über die Kanalisation verlassen hatte, war er keineswegs bei der antisemitisch eingestellten polnischen Heimatarmee willkommen und viele Juden, die den Nazis entkommen waren, wurden von den polnischen Freiheitskämpfern erschossen. Der Kampf gegen Diktatur und Krieg war für ihn auch 1945 noch nicht zu Ende, denn auch unter kommunistischer Herrschaft gab es noch Pogrome.

Während man im Westen schnell zum moralischen Bekenntnis überging und sich mit einem plakativen „Nie wieder“ ein gutes Gewissen verschaffte, war Edelman einer der Gründer von Solidarność und wurde während des Kriegszustands interniert. Er wandte sich gegen die Kriege in Jugoslawien, fuhr zweimal mit einem Hilfskonvoi nach Sarajevo, protestierte gegen die ethnischen Morde in Ruanda und Zaire. Dieser Haltung lag vielleicht ein naives Verständnis von Politik und Macht zugrunde, aber sie war von einer Erfahrung geprägt, die schwerer nicht wiegen konnte.

Diese Erfahrung bezog sich nicht nur auf Kampf, Überleben und Politik, sondern auch auf etwas vollkommen anderes. In seinem Gespräch mit Paula Sawicka sagt er: „Warum fragt mich niemand, ob es im Ghetto Liebe gab? Warum interessiert das niemand? Nur sie hat es uns ermöglicht weiterzuleben.“ Und dann erzählt er ergreifende Episoden über die Liebe in Zeiten des Krieges, die selbst unter schlimmsten Bedingungen und dem ständig gegenwärtigen Tod Menschen glücklich machte, und sei es nur für einen kurzen Augenblick, und man begreift, dass man Leben zwar vernichten kann, aber die Liebe imstande ist, sich darüber zu erheben. Edelman verschafft diesen Liebenden und Kämpfenden und Leidenden einen kleinen, aber sehr beeindruckenden Auftritt, bei dem einem erst bewusst wird, dass das Leben damals nicht nur aus Folter, Mord und Tod bestand.

Der polnische Kommandeur, der den kleinen 12-jährigen Jungen erschoss, wurde nicht vor Gericht gestellt, sondern zum Militärattaché in Jugoslawien ernannt, starb aber, bevor er seinen neuen Posten antreten konnte, bei einem Autounfall. Edelman sagt: „Ich kann nicht sagen, dass diejenigen aus unserem Zug, die am Leben geblieben waren, Tränen darüber vergossen hätten.“ Was sich über den „Sperling“, den kleinen Meldegänger zwischen den Einheiten, nicht behaupten lässt. KLAUS BITTERMANN

Marek Edelman: „Die Liebe im Ghetto“. Aus d. Poln. v. J. Manc. Schöffling Verlag, Frankfurt a. M. 2013, 176 S., 18,95 Euro