Ein Kollegium wie eine Gang

STARKE SCHULE Die Gemeinschaftshauptschule Niedersprockhövel bei Wuppertal gewinnt einen Preis nach dem anderen. Heute wird sie Landessieger Nordrhein-Westfalen für „Starke Schule“. Eine Ortsbesichtigung bei einer Anstalt, die nicht „Schule für alle“ wurde

■ Der „Hauptschulpreis“ war lange die kleine hässliche Schwester des Deutschen Schulpreises (tiny.cc/deutscherschulpreis). Während die Bosch-Stiftung mit ihrem Deutschen Schulpreis eine exzellente Jury hatte, gespickt mit Pisa-Forschern und Reformpädagogen, starb der Hertie-Stiftung das Objekt ihres Preises unter den Händen davon: die Hauptschule. Dann lenkte Hertie (ein bisschen) ein und benannte den Preis in Starke Schule (tiny.cc/starkeschulen) um: Schulen, die zur Ausbildungsreife führen. Die Hertie-Leute guckten sich die Akademie bei den Boschs ab, bei denen die Schulen voneinander lernen. Und sie stockten das Preisgeld auf, das mit 15.000 Euro immer noch weit von den 100.000 Euro des Schulpreises weg ist. Das Manko des Starke-Schule-Preises bleibt, dass er die pädagogische Apartheid der Schülertrennung abbildet.

VON BERND MÜLLENDER

Ein paar Jungs, alle offensichtlich in der Blüte der Pubertät, versuchen in der Mittagspause zu zeigen, warum sie ganz besonders starke Schüler sind. Sie bolzen auf dem großen Schulhof, hoch und weit, begleitet von üblichen Kraftausdrücken der Jungmachos. Einmal fliegt der Ball gefährlich auf eine Gruppe Jüngerer zu – „Vorsicht“ brüllt der Schütze. Ein anderer bolzt die Pille aufs Aula-Dach. Er entschuldigt sich bei seinen Mitkickern.

Ja, ein solches Verhalten sei „schon ein wenig ungewöhnlich“, gesteht Lehrer Olaf Schultes, „aber ein bisschen typisch bei uns.“ Der 52-jährige Ganztagskoordinator an der Gemeinschaftshauptschule (GHS) Niedersprockhövel zwischen Bochum und Wuppertal freut sich über die kleine Beobachtung. Man versuche halt auch soziale Kompetenzen zu vermitteln. Woanders hätten 14-Jährige, viele aus kritischen Milieus, womöglich nur darauf gehofft, dass der Ball bei den Kleineren so richtig reinkracht.

Klein, kompakt, überschaubar – das ist das Pfund einer lokalen Hauptschule. „Wir im Kollegium sind wie Ersatzeltern, eine zweite Heimat“, sagt Schulleiterin Christiane Albrecht, 53, „wir können jeden intensiv betreuen.“ Und dieser Satz fällt: „Wir treten im Kollegium auf wie eine Gang.“

Die GHS Niedersprockhövel ist mit neun anderen nominiert für den Preis „Starke Schule“, der am heutigen Mittwoch von NRW-Bildungsministerin Sylvia Löhrmann verliehen wird. Prämiert werden „hervorragende Konzepte zur Förderung der Ausbildungsreife“. Dass die Sprockhöveler den 1. Platz und die 5.000 Euro Preisgeld abräumen, gilt als ähnlich sicher wie der Meistertitel 2013 für Bayern München. „Starke Schule“ ist Deutschlands größter Schulpreis (700 Bewerbungen bundesweit 2012/13).

Sprockhövel ist eine integrative Ganztagsschule, jeden Tag geht es bis 15.30 Uhr. Es gibt 45 Arbeitsgemeinschaften für die gut 250 SchülerInnen, davon 48 Förderbedürftige. Die AGs bilden eine Kombination aus Freizeitpark, Lebensberatung und Berufswahlorientierung: Werkstätten, Akrobatik, Terrarium für die Tierpflege-Gruppe, Schulband (Rockhövel), Tanzen, Triathlon, Gedichtewerkstatt, Inliner und Seifenkisten, Ernährungsberatung, Garten („die grüne Schulklasse“). Im PC-Kurs mit 15 Sprockhöveler Senioren erklären die Kids den Alten das Internet.

Heute ist im Keller gerade der Modelleisenbahnkurs. Herr Otten, ein pensionierter Bahnfan Ü 70, fummelt mit einem halben Dutzend Schüler an den Gleisen, man bastelt, lötet, schraubt. Nebenan Kommunikationstraining mit fünf Förderbedürftigen. Die Kinder erzählen reihum, was sie in der vergangenen Woche Schönes und Doofes erlebt haben. Ziel: Konzentration auf den Gegenüber, Zuhören, Hinwendung. Die Sonderpädagogin hat zwei ausgebildete Hunde dabei. Eine hibbelige 12-Jährige wird erst ruhig, als sie einen von ihnen auf dem Schoß hat und ihn beim Erzählen kraulen kann.

„Hier fehlt es an nichts“, sagt Nachmittagskoordinator Schultes cool, „außer an Sicherheit, mindestens zehn Jahre weitermachen zu können“. Die Sponsoren-Akquise läuft offenbar brillant, Preisgelder werden gleich in Ausrüstung und Nachmittagspersonal investiert. Preise haben sie in Sprockhövel schon sonder Zahl abgeräumt, zuletzt viermal in Folge den 1. Platz „Bewegte Schule“. „Wo wir mitmachen, werden wir auch Erster“, sagt lässig Ulli Winkelmann, 55, der Sportlehrer und Schulsozialpädagoge. Die Flure hängen voll mit Urkunden und Zertifikaten: Schulentwicklungspreis. Berufswahlsiegel. Integrationspreis. Gütesiegel Förderung. Alle Schüler machen in Klassenstufe 10 einmal pro Woche außerhalb ein ganztägiges Praktikum. Fast 90 Prozent, eine starke Quote, verlassen die Schule mit einer Lehrstelle, einem Job oder der Zulassung zu einer weiterführenden Schule.

Wenn eine Hauptschule zur stärksten Starken Schule wird, zeigt das, dass diese an sich pädagogisch tote Institution im rühmlichen Einzelfall doch etwas kann. Das gibt auch Applaus von der anderen Seite: Die Verfechter des alten dreiteiligen Schulsystems mit dem ehrwürdigen, elitären Gymnasium an der Spitze sehen sich bestätigt. Nur, kann man das den leidenschaftlich engagierten Schulen wie Sprockhövel zum Vorwurf machen? „Dass die Hauptschule auf Dauer keine Zukunft hat“, meint Winkelmann, „ist uns auch klar.“

„Weil wir so klein sind, können wir genau verfolgen, was passiert“, sagt Schulleiterin Albrecht. In einer der riesigen Gesamtschulen, achtzügig womöglich, mit über tausend Schülern, gehen viele Problemfälle unter. Solche Gesamtschulen versuchen deshalb, wenigstens so was wie Heimat-Inseln je Klassenstufe aufzubauen. „Hier laufen Kinder rund; wenn unsere 250 Schüler auf eine der großen Gesamtschulen kämen, hätte ich vielleicht 250 Problemfälle“, übertreibt Olaf Schultes.

Dem Ideal näher käme womöglich die Kombination: eine kleine lokale Gesamtschule.

Die Hauptschule Niedersprockhövel hat 2011 versucht, zur dreigliedrigen Gemeinschaftsschule zu werden mit Gymnasialzweig, aus Eigeninitiative und ohne Kooperationspartner, etwa eine benachbarte Realschule. „Das war Arbeit ohne Ende mit viel Herzblut“, sagt Albrecht. Als endlich die Genehmigung vorlag, signalisierten 85 Eltern, ihr Kind anzumelden. 69 hätte man für den dreizügigen Start gebraucht. Am Ende aber kamen nur 50. Das Projekt war beerdigt. „Eine Riesenenttäuschung“, sagt Christiane Albrecht, „da hatten wir alle sehr dran zu knapsen.“ Manchmal bekomme sie heute noch die Wut, sagt sie, wenn sie die Abtrünnigen („unsere Tochter will doch lieber mit ihren Freundinnen aufs Gymnasium nach Hattingen“) irgendwo im Ort sieht.

Die Schule Niedersprockhövel ist keine Kuschelanstalt. „Wir sind bekannt als sehr strenge Schule“, erklärt Chefin Albrecht, „das sagen wir auch in jedem Erstgespräch. Aber dafür bieten wir auch mehr als andere. Und jeder kriegt seine spezielle Behandlung.“ Ob sie persönlich auch streng sei? Das „Ja!“ konnte eindeutiger nicht klingen. Als Ulli Winkelmanns Siebtklässler zu Beginn der Sportstunde laut und unaufmerksam sind, brüllt er sie zusammen, dass die Halle bebt. Sekunden später wäre jedes Mucksmäuschen von der Stille beeindruckt.

Die Kids spielen eine Art Hockey – mit Fliegenklatschen und Tischtennisball. Ein grotesk lustiges Spiel. Alle, wirklich ausnahmslos, sind begeistert dabei, vor allem die Mädchen. „Guck dir das an“, sagt Winkelmann begeistert, „wie die sich reinknallen.“ Aische, heftig verschwitzt, schießt das Siegtor. Fußball, sagt der Lehrer, „will hier kaum wer spielen. Wir haben Besseres zu bieten.“ Beim Fußball hätten die Guten geherrscht und andere nur als Slalomstangen benutzt.

„Wir im Kollegium sind für die Schüler wie Ersatzeltern, eine zweite Heimat“

SCHULLEITERIN CHRISTIANE ALBRECHT

Winkelmann formuliert den Hintergedanken beim Klatschenhockey: „Die Kids haben viel Bewegung und Spaß und dann kommt ungewollt die Anstrengung dazu.“ Anstrengung ist eigentlich uncool. „Ich hoffe, dass sich das auf den Unterricht überträgt.“ Winkelmann ist Bewegungsextremist. 15-mal nahm er am Doppel-Triathlon Ultraman auf Hawaii teil (10 km Schwimmen, 450 km Radfahren, 85 km Laufen) und wurde dort 2009 Weltmeister Ü 50. „Ich bin überzeugt, wer im Rückwärtslaufen einen Basketball dribbeln kann, ist auch besser in Mathe.“

Winkelmann hat vor fünf Jahren ein großes Forschungsprojekt seiner Schule mit Sportwissenschaftlern der Uni Dortmund angeschoben, wo es um den Zusammenhang von Bewegung, Koordination, Freizeitverhalten und kognitiver Leistungssteigerung geht. 2014 soll die Studie fertig sein.

Problemkids gibt es auch in Niedersprockhövel: Verwahrlosung daheim, Renitenz, Drogen, Regellosigkeit, Verweigerung. Störer müssen als „rituelle Ermahnung“ in den eigenen „Raum für eigenverantwortliches Denken“. In dieser pädagogischen Fortentwicklung der alten Strafe Eckestellen muss man die eigene Störung und den Plan der Besserung auf einem Formblatt beschreiben. „Ohne Reflektieren kein Lernen“, sagt Winkelmann, „aber wir kümmern uns immer, helfen mit, auch den Permanentstörern.“

Wer viermal im Halbjahr auffällig wird, darf eine ganze Woche in den Trainingsraum einrücken: „Dann arbeiten die sich hier den Arsch ab, ausgeschlossen aus ihrem Klassenverbund“, sagt Winkelmann. Indes, einzelne Schüler kriegen sie auch nicht recht gepackt, vier sind es zurzeit. „Alle vier sind später zu uns gekommen. Wir können sie mit unserem Netz immer noch einzufangen versuchen.“

Zum Netz gehört auch die AG Schlichtungsgruppe aus etwa zehn Mitschülern. Das ist Hauptschüler-Problemfall-Selbstverwaltung. Ministerin Löhrmann wird einiges zu loben haben heute Nachmittag.