Oberstes Gericht ausgehebelt

UNGARN Regierungsparteien verabschieden ihre Verfassungsreform. Die höchsten Richter sind künftig nur noch für Formfehler zuständig

Die Regierung will jetzt in den Städten „obdachlosenfreie Zonen“ schaffen

VON RALF LEONHARD

WIEN taz | Das ungarische Verfassungsgericht wird entmachtet. Einwände der Verfassungsrichter gegen umstrittene Gesetzesvorhaben ließ Premier Viktor Orbán am Montag dadurch aushebeln, dass er die beanstandeten Passagen in die Verfassung schreiben ließ.

Mit der Zweidrittelmehrheit der Regierungsfraktion Fidesz-KNP wurde die bereits vierte Novelle zum erst seit Anfang 2012 geltenden Grundgesetz Montagabend durchgewunken. Proteste vor dem Parlament wurden ebenso ignoriert, wie warnende Stimmen aus dem Ausland.

Am Samstag waren in Budapest mehrere Tausend Menschen auf die Straße gegangen, um mit dem Slogan „Die Verfassung ist kein Spielzeug!“ gegen das Vorhaben zu protestieren. Der linke Philosoph Tamás Miklós Gáspár warf als Hauptredner der Regierung vor, das Grundgesetz für Parteipolitik und zur Zementierung der Macht von Fidesz zu missbrauchen: „Eine Verfassung muss das einigende Grundelement für das ganze Land und seine Menschen sein, nicht das Bestrafungswerkzeug einer vorübergehenden Mehrheit“.

Es geht um Obdachlose, Studenten, die Familie, die Wählerregistrierung, Anerkennung von Religionsgemeinschaften und das Verfassungsgericht (VerfGH) selbst. Den Obersten Richtern ist es künftig verboten, die eigene Spruchpraxis seit der politischen Wende in ihre Urteile einzubeziehen. Künftig dürfen sie auch nicht mehr inhaltlich über ein Gesetz urteilen, sondern nur über Formfehler. De facto wird das VerfGH als Korrektiv der Gesetzgebung damit ausgeschaltet.

Anderswo wird über die Gleichberechtigung von Homoehen diskutiert. In Ungarn schreibt man Viktor Orbáns Familienbegriff in die Verfassung. Die Familie, so heißt es, bestehe aus Vater, Mutter, Kindern oder allenfalls einem Elternteil plus Kind(ern). Damit werden selbst kinderlose Paare von gewissen Leistungen des Staates ausgeschlossen. Die Verfassungsrichter hatten in dieser engen Definition einen Verstoß gegen den verfassungsmäßig verankerten Gleichheitsgrundsatz gesehen.

Die verpflichtende Wählerregistrierung zwei Wochen vor einem Urnengang sahen sie als Einschränkung des Wahlrechts, der Meinungs- und Pressefreiheit. Sie nützt der Regierungspartei, deren Mobilisierungsfähigkeit am größten ist.

Mit dem Einwand, der Umstand der Obdachlosigkeit an sich könne noch keine Straftat sein, hatte das VerfGH zu Jahresbeginn ein Gesetz aufgehoben, das die Städte von Wohnungslosen säubern soll. Die Regierung will jetzt „obdachlosenfreie Zonen“ schaffen, innerhalb derer die Kommunen die Wohnungslosen verfolgen können. Bezieher von Studienbeihilfe werden verpflichtet, das Doppelte ihrer Studienzeit in Ungarn zu arbeiten, bevor sie eine Arbeit im Ausland suchen – ein grober Verstoß gegen die von der EU garantierten Freizügigkeit.

Auf besorgte Stimmen, wie sie von EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso, vom Europarat und auch vom US-Außenministerium geäußert wurden, reagiert Orbán mit der kalten Schulter. Außenminister János Martonyi musste zur Verteidigung ausrücken. Die Kritik beruhe großteils auf „mangelnden Informationen und Missverständnissen“, erklärte er in einem offenen Brief an einige EU-Amtskollegen. Nur Staatspräsident János Áder hätte es noch in der Hand, den Verfassungsreformen die Unterschrift zu verweigern.

Genau das fordert von ihm sein Vorvorgänger László Sólyom in einem offenen Brief. Er verweist darauf, dass das VerfGH in seiner Spruchpraxis Grundrechte wie die Menschenwürde allen anderen Bestimmungen übergeordnet habe.