Neue Dramatik: Schelte an die Deutschen
Der italienische Regisseur Romeo Castellucci hat eine Bühnenfassung von Hölderlins Briefroman „Hyperion“ erarbeitet und besticht damit in Berlin.
Bis an die Schmerzgrenze. Da möchte der italienische Theaterregisseur Romeo Castellucci hin. Er will sein Publikum reizen. Er gibt sich der Katharsis hin – der seelischen Reinigung von Affekten – ganz in der Tradition von Aristoteles.
Für das Festival Internationale Neue Dramatik (FIND) an der Schaubühne in Berlin inszeniert Castellucci Hölderlins Text „Hyperion“ und ergänzt ihn mit dem Untertitel „Briefe eines Terroristen“. Für Castellucci geht es um den „Terrorismus der Schönheit“.
Seine Inszenierung beginnt bombastisch: Eine mit Ikea-Möbeln eingerichtete Wohnung wird von Polizisten kurz und klein geschlagen – bis von ihr nur ein schöner Haufen aus Chaos und Schutt zurückbleibt. Als die Polizisten fertig sind, gehen sie durch die Publikumsreihen und verjagen die Zuschauer. Alle müssen raus, keiner will. Und bereits hier beginnt Castellucci mit seiner Provokation. Die Zuschauer haben es sich gerade gemütlich gemacht, wollen im geschützten Raum bleiben, und er wirft sie raus. Das sorgt für Empörung, für Unverständnis.
Weißer Kubus, schwarzer Hund
Zwanzig Minuten später, das Publikum sitzt wieder: Eine aufgeräumte Bühne, im Stile eines weißen Kubus, ein schwarzer blinder Hund – eine Referenz an Teiresias, den blinden Propheten. Ein Mädchen löst den Hund ab, weiß gekleidet mit einem Lorbeerkranz auf dem Kopf, sie flüstert: „das erste Kind der menschlichen, der göttlichen Schönheit ist die Kunst“. Abwechselnd treten Frauen auf die Bühne, die Hyperion in unterschiedlichen Gestalten darstellen.
1797 schrieb Hölderlin seinen Briefroman, in dem Hyperion auf sein Leben zurückblickt. Nach mehreren Stationen unter anderem in Deutschland flieht Hyperion zurück nach Griechenland und wird Eremit. Er findet zu sich selbst durch die Schönheit der Landschaft und Natur. Darum geht es auch Romeo Castellucci, um Selbstfindung.
Der Regisseur gründete 1981 seine Theaterkompanie Societas Raffaello Sanzio, die in Italien für ein radikales Theater steht. So radikal, dass Castellucci mittlerweile mehr auf internationalen Festivals unterwegs ist (wie in Avignon) als in Italien. Thomas Ostermeier, Leiter des FIND-Festivals, hat sich Theatermacher aus den Krisenländern eingeladen. Zum Beispiel Rodrigo Garcia aus Spanien und auch die griechische Theatergruppe Blitz, die das Festival eröffnete.
Ihr „terroristischer Tanzsalon“ ist eine Party. Schauspielerpaare tanzen, singen und rufen revolutionäre Worthülsen in die Runde. Sie stricken Schals, spielen Kicker und Diktatoren-Quartett. Am Ende keine Spur von guter Laune, die Revolutionäre verabschieden sich mit: „Ich bin eure Dummheit leid.“
Gewaltige Bildsprache
Ähnlich wie Castellucci gilt auch die Blitz-Gruppe als rebellisch, als Stimme eines provokanten, europäischen Theaters. Und ähnlich wie der italienische Regisseur begreifen sie Theater als eine Kombination verschiedener Künste und Techniken. Castellucci verwendet oft wechselnde Bühnenbilder, er benutzt Videoprojektionen und legt großen Wert auf Licht. Er nutzt alle Möglichkeiten, die ein Theater heute zu bieten hat.
Erstaunlicherweise gilt er auch in einem vermeintlich aufgeklärten Deutschland als Skandalregisseur, als Bilderkunstkitsch-Typ und als Ästhet. Profan ist Castellucci nie, auch nicht gewöhnlich, trotz oder gerade wegen seiner gewaltigen Bildsprache. Jede Szene sitzt, ist bis ins kleinste Detail durchchoreografiert. Neben dem schönen Moment ist Castellucci die Körpersprache wichtig.
Die Schauspielerinnen machen nicht viel mit ihrem Körper, eine sanfte Geste hier, ein leichtes Erheben der Hand dort. Der Körper soll nicht Hölderlins Text übertönen, sondern Text und Körper bilden eine Symbiose. Castelluccis Inszenierung von Hölderlin ist auf Schönheit abgestellt, jede Einstellung wirkt wie ein Kunstwerk, wie ein Foto. Und offenbar provoziert Castellucci genau durch die Vermischung der Kunstformen seine Zuschauer.
Doch er geht über das Ästhetische hinaus: Er lässt die Schauspielerin Angela Winter die Scheltrede an die Deutschen aufsagen. „Es ist ein hartes Wort und dennoch sag ich’s: ich kann kein Volk mir denken, das zerrißner wäre, wie die Deutschen. Handwerker siehst du, aber keine Menschen, Denker, aber keine Menschen, Priester, aber keine Menschen, Herrn und Knechte …“ Daran hat sich nichts geändert.
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