ausgehen und rumstehen
: Mit Schampus und Schoki auf in den Tod vor Stalingrad

Immer wenn du denkst, es geht nicht mehr, kommt von irgendwo ein Schokoladenweihnachtsmann am Stil her. Freitagabend hatte ich beispielsweise das Abendbrot vergessen und war stattdessen direkt zu einer Champagnerparty gegangen, bei der jeder Gast eine Flasche mitbringen sollte. Die standen dann schick in der Spüle inmitten von geliehenen Eiswürfeln, es sah aus wie in der Küche von Ivana Trump oder der Woolworth-Erbin oder so. Allerdings hatte sich einer glatt mit einer Flasche Freixenet eingeschlichen. Ich war empört und schlug dem Gastgeber vor, Fingerabdrücke vom Flaschenhals zu nehmen – es gibt da eine billige und effektive Methode mit Babypuder (für dunkle Untergründe) bzw. Kakaopulver (für helle).

Aber das geriet beim Trinken schnell in Vergessenheit. Als ich hungrig und betrunken später das neue White Trash Fast Food am Anfang der Schönhauser Allee aufsuchte, schenkte mir ein ganz entfernter Bekannter einen Schokoladenweihnachtsmann am Stil, und ich glaube, die durch den Zucker und die Kakaobutter und die Spuren von Nüssen neu gewonnene Energie befähigten mich, stundenlang die Struktur des Raumes zu untersuchen: Das neue White Trash sieht aus wie ein rustikal-gemütliches MC-Escher-Bild voll mit Popkomm. Überall Treppen, die nach oben und unten und zur Seite und sich wendelnd ins Nichts gehen, dazwischen hasten schnieke KellnerInnen von Ebene zu Ebene auf und ab, an jeder Ecke wartet ’ne andere Schnecke, auf jedem Hocker ein anderer Rocker.

Im riesigen Konzertkeller, der mit eigenwilligen Inka-Kindergarten-Schnitzereien verziert ist, spielten dann noch Petting, und das war bezaubernd. Aber ich fuhr lieber ins Josef, dem neuen Club hinter dem Maria, und entschloss mich, das White Trash an einem weniger fordernden Wochentag zu besuchen. „Und wie heißt das Klo im Josef, vielleicht Jesus?“, witzelte ein noch weiter entfernter Bekannter, aber das konnte ich nicht mehr in Erfahrung bringen – irgendwie herrschte im Josef unterkühlte Betstuhlatmosphäre. Elektronische Musik hat ja immer diese Note, jedenfalls, wenn der Club noch leer ist. Vermutlich hätte man erst um vier hingehen sollen. Da war ich schon wieder weg, denn nichts kühlt das Mütchen so sehr wie eine Flasche Champagner auf nur einen Schokoladenweihnachtsmann am Stil.

Ich fand mich darum im Heinz Minki wieder, wo im Winter seit neuestem eine kleine Wohnung geöffnet ist. Dort hatte Käpt’n Karaoke seine komische Karaokebox aufgestellt, und der schummerige Laden brummte vor Mädchen, betrunkener, weitaus betrunkener als ich, die sich mit leidenschaftlich erhobenen Armen Tom-Jones-Songs vorsangen und dazu Cliquentänze aufführten. Wie sagte die freundliche, geduldige Barfrau, die wie ein Fels in der Brandung Bier ausschenkte: Das einzig Schlimme ist, wenn Leute versuchen, wirklich gut zu singen. Dies versuchte an diesem Abend aber keiner. Darum war er so gelungen. Der Samstag war dafür verkatert, doch Sonntag ging ich noch mal ins publikumtechnisch etwas verschlankte White Trash, zu den Riviera Playboys aus Rochester, New York, bei denen Ex-Chesterfield-Kings-Mitglieder mitspielten, vermutlich die beiden würdig gealterten Gitarristen: Einer war dünn, der andere dick geworden, was überhaupt nichts ausmachte, im Gegenteil! Sie waren spitze, wenn man nichts gegen extrem lauten gitarren- und mundharmonikaaffinen Garagenbeatpunk hat – und das hatte ich ja noch nie. Die anderen ausgesuchten Gäste auch nicht. Ein extrem weit entfernter Bekannter und Riviera-Playboys-Fan bereicherte außerdem meine Erstaunliche-Getränke-Sammlung um ein Rezept für ein erstaunliches Getränk namens „Tot vor Stalingrad“ (oder „Tod vor Stalingrad“?): Kaffeemaschinenkaffe, nur dass man Wodka statt Wasser durchlaufen lässt. Huach! JENNI ZYLKA