GROSS GEWACHSEN
: Enricos neues Glück

Ein Moment, den man in seinem Leben nie vergessen möchte

Enrico hat mal wieder was am Laufen. Mit einer Frau, die einsvierundneunzig groß ist. Einer gewissen Evelyn, die, wenn sie ihren Arm nach oben streckt, meinen Freund Enrico aussehen lässt wie einen Touristen unterhalb der Freiheitsstatue.

„Meinst du, das wird was Ernstes?“, will ich wissen. Wir sitzen in einer Kneipe in der Kollwitzstraße und stecken unsere Köpfe konspirativ zusammen. Er zuckt mit den Schultern, stutzig wie so oft – und dann auf einmal kommt sie zur Tür herein. Betritt den Raum, hält kurz inne und läuft auf uns zu. Sie sieht sympathisch aus. Und riesig. Kurz drauf steht sie an unserem Tisch, gibt Enrico einen Kuss und reckt anschließend ihren linken Arm hinauf in die Luft, um jemandem am Tresen zuzuwinken. Ein Moment, den man in seinem Leben nie wieder vergessen möchte: Die Einsvierundneunzig-Große streckt ihren vermutlich dreiundachtzig Zentimeter langen Arm in die Höhe und wird dabei in meinen Augen zu einer der berühmtesten Sehenswürdigkeiten der Welt, während ein Tourist aus Italien danebensteht und strahlt. Evelyn setzt sich zu uns an den Tisch, und wir drei kommen miteinander ins Plaudern. Ein, zwei Stunden lang.

Ich bin noch nie in New York gewesen, kenne es lediglich von Bildern und Berichten und was man eben aufschnappt. Aber am Ende dieses Abends, als Evelyn aufsteht und Enrico steil zu ihr hinaufblickt, da schippere ich in Gedanken mit einem Ausflugsdampfer auf dem River Hudson und knipse, was das Zeug hält. Alle anderen denken wohl einfach: Was ist die Frau lang! Auch wenn Enrico einer ist, bei dem das Glück bisher nicht lange Halt gemacht hat – vielleicht ist es diesmal anders, vielleicht genau deswegen. Ich habe jedenfalls ein gutes Gefühl, als ich ihn beobachte, wie er den Arm um sie legt, mit seinen Einszweiundsechzig samt Schuhen, und dann mit ihr in die Nacht verschwindet.JOCHEN WEEBER