Langweilig wird sie nie

VOLKSABSTIMMUNG Die Ablehnung der direkten Demokratie beruht hauptsächlich auf Ressentiments. Ein genauer Blick lohnt

■ ist freier Publizist und Historiker und lebt in Frankfurt am Main. 2011 erschien im Oktober Verlag der zweite Sammelband mit seinen Essays, Kommentaren und Glossen: „Aufgreifen, begreifen, angreifen“.

Eine satte Zweidrittelmehrheit der Schweizer hat für die Abzockerinitiative gestimmt, das heißt dafür, dass die Hauptversammlung aller Aktionäre über Gehälter und Boni der Manager befindet und nicht eine kleine Klüngelrunde.

Freilich: „Aktionärsdemokratie“ heißt nicht Demokratie, aber die Mehrheit der Schweizer ist allemal „so weit gekommen, dass die Rechtsverletzung gefühlt wird“ (Kant). Wohl deshalb fand das Abstimmungsergebnis europaweit ein positives Echo.

Dienst am Stimmvieh

Direkte Demokratie kommt sonst nicht so gut an. Konservative und das „besserverdienende“ Publikum verspotten die direkte Demokratie gern als provinziell-alpenländische Variante des maoistischen Slogans „Dem Volke dienen!“ oder als „vox populi – vox Rindvieh“, ein Bonmot, mit dem sich der stockreaktionäre Abgeordnete Elard von Oldenburg-Januschau 1910 im Reichstag und Franz Josef Strauß in den 1960er bis 1980er Jahren im Bundestag profilierten. Verglichen damit ist die modische Rede von der „populistischen Diktatur“ moderat.

Solche Zuschreibungen beruhen ebenso auf Vorurteilen und Ressentiments gegen die direkte Demokratie wie deren Beschwörung als quasigottgewolltes Vermächtnis für die Eidgenossen. Ein Blick auf die Grundlagen, die Geschichte und die Praxis der direkten Demokratie befreit von propagandistischem Nebel und von Verteufelung. Dazu sechs Thesen:

Erstens: Im Gegensatz zu den fehler- und irrtumsbelasteten Entscheidungen von Parlamenten, Regierungen, Expertengremien und Kommissionen tragen in der direkten Demokratie die Wählenden die Kosten und die Folgen ihrer Entscheidungen und nicht ihre Stellvertreter in künftigen Regierungen. 50,3 Prozent der Stimmberechtigten lehnten 1992 den Beitritt der Schweiz zum Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) als Schritt zur EU-Vollmitgliedschaft ab. Seither werden nur bilaterale Verhandlungen über Einzelfragen geführt. Aber die EU mit ihren rund 500 Millionen Mitgliedern lässt sich von den Vertretern der 8 Millionen Schweizer weder erpressen noch über den Tisch ziehen. Der Preis, den alle Schweizer für den kollektiven Irrtum der knappen Mehrheit von 1992 zu entrichten haben, steigt jedes Jahr. Auch diejenigen, die den Irrtum selbstverblendet herbeiführten, gehören zu den Zahlenden. Das allerdings ist in der Politik wie in der Wirtschaft und in Expertengremien ungewöhnlich.

Zweitens: Direkte Demokratie verhindert „Durchregieren“, „Basta-“ und Machtwortpolitik, da wichtige Fragen dem Referendum eben dem Volk unterliegen. Zugleich ermöglicht die direkte Demokratie schnellere Selbstkorrekturen als die repräsentative Demokratie, in der nur alle vier Jahre nach der Volksmeinung gefragt wird. „Demokrat sein hieße, handeln unter der Prämisse, dass wir niemals in einer ausreichend demokratischen Gesellschaft leben“ (Jacques Derrida), denn Demokratie ist kein Zustand, sondern ein Prozess, in dem Irrtümer und Fehler unvermeidbar sind. Die im System eingebaute Fähigkeit zur Selbstkorrektur ist ein rationales und effizientes Mittel dafür. Das verkrustete Parteiwesen dagegen hat das Potenzial zur Selbstkorrektur parlamentarischer Entscheidungen gelähmt und die Distanz zum Souverän vergrößert. Dieses Defizit kann nur das Volk selbst korrigieren.

Tod dem Stammtisch

Drittens: Das billigste Argument gegen die direkte Demokratie lautet: Kämen Volksentscheide, hätten wir morgen wieder die Todesstrafe. Das ist stammtischnahe Stimmungsmache. Denn so wie das Grundgesetz die Grundrechte in den ersten 19 Artikeln unter den Vorbehalt stellt, ihr „Wesensgehalt“ sei unantastbar, kann man auch andere Normen – zum Beispiel völkerrechtliche oder die Todesstrafe – der Veränderbarkeit durch Volksentscheide entziehen.

Viertens: Häufig wird gegen die direkte Demokratie eingewandt, sie öffne unter den heutigen medialen Bedingen die Schranken für populistische democracy light, italienische Clownerien und die „Postdemokratie“. Der Einwand ist in der Sache stichhaltig, aber falsch adressiert. Nicht dass die direkte Demokratie Defizite hat, macht den Populismus als Politikersatz möglich, sondern das Fehlen demokratischer Kontrolle des Medienwesens und qualitätsorientierter Selbstkontrolle. Die Privatisierung des Klamaukmediums Fernsehen und die Boulevardisierung der Presse haben den vulgären Populismus genährt, nicht die Defizite direkter Demokratie.

Minarette der Mehrheit

Die Privatisierung des Klamaukmediums Fernsehen hat den vulgären Populismus genährt, nicht die direkte Demokratie

Fünftens: Aus der Tatsache, dass in 50 Volksabstimmungen in der Schweiz zwischen 1970 und 2007 in 60 Prozent der Fälle Mehrheiten zustande kamen, die eine oder mehrere Minderheiten benachteiligen, folgt nicht, dass direkte Demokratie auf die „Tyrannei der Mehrheit“ hinauslaufen muss, wie Konservative schon im 19. Jahrhundert meinten. Der Ausgang der Abstimmung, die den Bau von Minaretten in der Schweiz faktisch verbietet, benachteiligt die Muslime in ihrer Religionsfreiheit. Aber gäbe es in der Schweiz eine verfassungsrechtliche und nicht nur eine formale Überprüfung von Initiativen vor deren Zulassung zur Abstimmung, hätte die Abstimmung über Minarette gar nicht zugelassen werden können.

Sechstens: Wenn es einen Schwachpunkt der helvetischen direkten Demokratie gibt, dann ist es die Angst der kleinen unter den 26 Kantonen, majorisiert zu werden. Um das zu verhindern, benötigt jede Initiative nicht nur eine Mehrheit unter den an der Abstimmung Teilnehmenden, sondern auch eine Mehrheit der Kantone. Dieses Erfordernis einer doppelten Mehrheit geht zurück auf die Gründung des Bundesstaats 1847/48. Diese gelang erst nach einem kurzen Bürgerkrieg, der ausbrach, weil acht kleine, katholische, agrarische Kantone der Zentral- und Ostschweiz eine Hegemonie der großen, protestantischen, industrialisierten Kantone befürchteten und sich deshalb als „Sonderbund“ konstituierten. Rücksichten auf Ängste der kleinen Kantone verhindert bis heute die Errichtung eines Schweizer Bundesverfassungsgerichts, das völkerrechtswidrige oder gegen Minderheiten gerichtete Volksinitiativen vorab unterbinden könnte.

RUDOLF WALTHER