„Ich bin weniger Alphatier als Allzweckwaffe“

DER REPORTER Ulli Zelle berichtet für die „Abendschau“ im RBB-Fernsehen von roten Teppichen – aber eben auch über Parkraumbewirtschaftung und Kleingartenkolonien. Piefig findet der 61-Jährige das nicht, obwohl er eigentlich als Korrespondent ins Ausland wollte

■ Der Reporter Ulrich Zelle, Jahrgang 1951, wuchs im niedersächsischen Obernkirchen auf. Sein Kindheitswunsch war es, Lokalreporter bei der örtlichen Tageszeitung Schaumburger Nachrichten zu werden. Der Sohn eines Kleinunternehmers machte zunächst in Hannover eine Ausbildung zum Werbekaufmann, studierte dann in Berlin Wirtschafts- und Gesellschaftskommunikation an der HdK, später Publizistik an der FU. 1984 kam er als freier Reporter zum Sender Freies Berlin, seit 2003 RBB. Er ist vor allem in der „Abendschau“ (täglich, 19.30 Uhr) und im „Heimatjournal“ (samstags, 19 Uhr) zu sehen.

■ Der Sänger Als „Ulli & die Grauen Zellen“ tourt er seit 2002 mit seinen Bandkollegen Micki Westphal (Bassist), Johannes Gebauer (Schlagzeug), Mano Opitz (Keyboard) und Volker Hugo (Gitarre) durch die Stadt.

■ Der Privatmann Zelle ist verheiratet mit der Politologin Niki Sarantidou und hat zwei Kinder, Maximilian (8) und Constantin (5).

INTERVIEW PLUTONIA PLARRE
UND ANNA KLÖPPER
FOTOS WOLFGANG BORRS

taz: Herr Zelle, wenn wir mit dem Interview fertig sind, brechen Sie zu einer Reportage über Schneematsch auf. Wie aufregend.

Ulrich Zelle: Ist mir schon klar, was Sie denken: Typisch „Abendschau“. Das Attribut der Piefigkeit wird uns ja immer wieder gern angehängt.

Stimmt doch auch.

Vergleichen Sie mal andere Regionalmagazine der ARD, dann werden Sie feststellen, dass sich in der „Abendschau“ schon die Hauptstadt widerspiegelt.

Wer entscheidet, was für Termine Sie abdecken?

Das macht natürlich unsere basisdemokratische Redaktionskonferenz.

Aber Ulli Zelle ist da schon das Alphatier?

Ich bin weniger Alphatier als Allzweckwaffe. Ich bin bereit, jeden Tag mein Bestes zu geben.

Wie gut ist das Beste nach 28 Dienstjahren noch?

Da ist schon noch ehrliche Begeisterung. Das ist es ja, was mich am Reporterberuf reizt: das Spannungsfeld zwischen Isomatte und rotem Teppich; dass ich heute den Obdachlosen begleiten kann, um mir im Tiergarten sein Nachtlager anzugucken, und morgen mache ich das Grand Opening im Waldorf Astoria. Natürlich muss ich mich auf meine Themen gefühlstechnisch einstellen.

Gefühl geht vor Handwerk?

Dass ich das Handwerk beherrsche, setze ich bei mir mittlerweile voraus. Und Gefühl kann man nicht erlernen, genauso wenig wie man inszenieren kann, was beim Zuschauer rüberkommt. Ich kann mich eben schnell in Menschen reindenken. Was ich gesehen, gehört und erlebt habe, vermag ich auf einen Nenner zu bringen, den unsere Zuschauer verstehen. Und zwar die Oma in Marzahn-Hellersdorf genauso wie den Professor in Steglitz-Zehlendorf.

2008 hatten Sie die Rolling Stones vor dem Mikrofon. Darum können Sie Ihre Kollegen von den anderen Regionalmagazinen tatsächlich beneiden.

Damals hatte Martin Scorsese die Doku „Shine a light“ über die Stones auf der Berlinale vorgestellt. Das war furchtbar. Da stand ich dann mit Charlie Watts, tja, und dann erklären Sie dem mal, dass er sich jetzt noch einen Moment gedulden muss, weil wir gerade noch eine Nachrichtenstrecke über die Parkraumbewirtschaftung abwarten müssen, bevor wir das Interview machen können. Ich weiß auch gar nicht mehr, was ich ihn und Mick Jagger dann später gefragt habe, ich war so wahnsinnig aufgeregt. Dabei war das mein drittes Interview mit den Stones.

Hat da der Musiker oder der Reporter Ulli Zelle interviewt?

Der aufgeregte Fan.

Sie singen seit 2002 in der Band Ulli & die Grauen Zellen. Ihren ersten Auftritt hatten Sie anlässlich Ihres 50. Geburtstags.

Ja, vor 200 Leuten. Das war eigentlich nicht ganz ernst gemeint. Deswegen auch dieser Name: Ulli & die Grauen Zellen. Kurt Krömer war übrigens einer unserer Sidekicks damals – der hat uns ständig erzählt, dass wir noch ganz groß rauskommen würden. Sind wir natürlich nicht, aber das Bandprojekt hat sich dann tatsächlich zu einer Art Selbstläufer entwickelt. Mittlerweile haben wir so 50, 60 Auftritte im Jahr.

Abends auf der Bühne entlädt sich der Arbeitsfrust?

Natürlich, da kann ich alles rausschreien, was ich in der „Abendschau“ nicht rauslassen kann. Dort bin ich einer von vielen, auf der Bühne habe ich aber meine eigene Show, mein eigenes Publikum. Das ist schon auch Kompensation.

Sie haben keine Festanstellung beim RBB. Warum eigentlich nicht?

Man hat mich nie gefragt. Und warum man mich nicht gefragt hat, wird tarifliche Gründe haben. In Klammern: Fleißige freie Mitarbeiter verdienen manchmal ein bisschen mehr als fleißige Festangestellte.

Bei Ihren Fernsehauftritten spürt man nie eine politische Haltung. Haben Sie eine?

Mein Herz schlägt linksliberal. Schöne Anwort, ne? Da kann man alles reinpacken. Den Freien Demokraten genauso wie den Sozialdemokraten und den Grünen auch. Ich hab mal gelernt, dass Politiker an so einer Stelle sagen: Immer da, wo Politik für den Menschen gemacht wird, ist es gute Politik. Aber mal ernsthaft: Ich bin kein Rathausreporter. Ich glaube nicht, dass bei einem Reporter wie mir eine politisch festgelegte Grundhaltung erforderlich ist. Ich bin nicht Ulli Deppendorf, sondern Ulli Zelle.

Werden Sie eigentlich ständig angesprochen, wenn Sie durch Berlin laufen?

Ja, aber ich komme damit sehr gut klar. Ich mache den Job doch für die Leute da draußen. Insofern haben die auch das Recht, mich anzusprechen. Obwohl manchmal, wenn es um ganz private Dinge geht, habe ich mir schon eine Tarnkappe gewünscht. Man kann sich als Mensch, der in der Öffentlichkeit steht, keinen Fehltritt erlauben. Wir sind ja eine Art Vorbild.

Es gab mal eine Alkoholfahrt, Sie hatten 0,6 Promille intus.

Vor wenigen Jahren wäre das noch durchgegangen. Ich will das nicht verteidigen. Was ich eher erschreckend fand, ist, dass das Medium Bild-Zeitung offensichtlich an alles rankommt, was eigentlich nicht für die Öffentlichkeit bestimmt ist.

Sie mussten erst selbst zum Betroffenen werden, um das zu erkennen?

Wohl wahr. Da werden offenbar irgendwelche Leute für die Herausgabe von Informationen bezahlt.

Zu den Leuten, die 1968 die Zeitungswagen von Springer angezündet haben, gehörten Sie demnach nicht?

Als ihr hier die Springerautos angezündet habt, habe ich noch in Hannover bei der Roter-Punkt-Aktion demonstriert, gegen die Fahrpreiserhöhung bei der Üstra, sozusagen die BVG Hannovers. Alle, die einen roten Punkt am Auto hatten, haben Anhalter mitgenommen.

Radikaler waren Sie nie?

Klammer auf: Er rutschte auf dem Stuhl unruhig hin und her. Klammer zu.

So schlimm wird es doch nicht gewesen sein, oder?

In meiner Heimatstadt, also bei Hannover, war ich in der Lehrlingsinitiative. Wir haben uns für ein unabhängiges Jugendzentrum eingesetzt. Das berühmte UJZ. Ich hatte lange Haare, Mittelscheitel.

Haschisch geraucht?

Nicht vertragen. Mir ist richtig schlecht geworden.

Was ist passiert?

Ich hatte diesen Joint aus dem Tabak von Zigarettenkippen gedreht, weil ich nichts zu Hause hatte. Das Papier war von der Peking Rundschau. Die hatte ich mir mal als Informationsmaterial kommen lassen. Die Zeitung hatte sehr dünnes Papier. Zusammengeklebt habe ich den Joint mit Uhu. Das war’s dann.

Was treibt Sie bei Ihrer Arbeit an?

Mein Treibstoff ist der Job. Manchmal vergleiche ich mich mit einem Dieselmotor. Ich bin dann besonders schlecht, wenn ich ein paar Tage nicht gelaufen bin. Sie können mich Workaholic nennen.

Wie lange sieht man Sie noch vor der Kamera?

Solange man mich lässt.

Wie lange lässt man Sie?

Das weiß ich nicht. Die Obergrenze beim RBB liegt bei 65 Jahren, Freie dürfen auch länger.

Sie fühlen sich nicht alt?

Nein, überhaupt nicht. Ich fühle mich wie, sagen wir, 54. Wenn ich bei unseren Auftritten mit der Band auf die Bühne komme, bin ich regelmäßig erschrocken, wie alt da alle im Publikum sind. Und dann realisiere ich, dass ich ja genauso alt bin.

Ihre Musik ist auch schon älter: die Stones, die Beatles.

Wir spielen die Perlen der Popmusik, Musik muss Gefühle auslösen: Rio Reiser, Rolling Stones, David Bowie.

Gibt es den einen Song für Sie?

„Für immer und dich“ von Rio Reiser. Und „Sympathy for the Devil“, ein Muss bei jedem Konzert.

„Ich glaube nicht, dass bei einem Reporter wie mir eine politisch festgelegte Grundhaltung erforderlich ist“

Was verbindet Sie denn mit Rio Reiser und den Stones?

Zum Beispiel die Besetzung des UJZ Hannover. Das war ’ne wilde Zeit. Und bei den Stones, ich war Tischlerlehrling …

Sie waren vor Ihrem Studium Handwerker?

Ich hab damals auf dem Bau gearbeitet, weil ich mal Innenarchitekt werden wollte. Ich habe zum Beispiel das Gefängnis in Bückeburg mit Fenstern ausgestattet. Jedenfalls musste ich für meinen Meister immer die Bild-Zeitung holen. Und eines Morgens hat mich damals die Schlagzeile „Brian Jones, Gitarrist der Rolling Stones tot“ schwer erschüttert.

Und Bowie?

Die wilde Zeit in Berlin. Der Dschungel am Winterfeldtplatz – das war eine wahnsinnige Kneipe. Das Softrock-Café, die Ruine, das Far Out und das Andere Ufer, der Schwulen-Laden. Die hatten immer ein großartiges Programm. Einmal haben Sie denen die Scheibe eingeschlagen und da hat Bowie ihnen die ersetzt. Und dann der Häuserkampf …

Waren Sie dort als Beobachter oder als Steinewerfer?

Sagen wir, ich war Sympathisant. Ich habe da ja gewohnt, am Winterfeldtplatz.

Der Winterfeldtplatz und Bowie hatten natürlich mehr Glamour als das UJZ Glocksee.

Klar, die berühmte Szene von Berlin hat mich damals angezogen. Natürlich haben wir auch in Hannover ein bisschen Action gemacht. Aber das war eben kein Vergleich zu dem, was in Berlin damals passierte. Die Kneipenszene, die Musik – Ideal, Spliff – und dann bekam man ja auch einen grünen Personalausweis, wenn man in Westberlin wohnte. Nicht, wie im übrigen Bundesgebiet, einen grauen. Berlin war anders, wir waren anders!

Jetzt wohnen Sie ganz etabliert in Gatow.

In Alt-Gatow! Das ist ganz wichtig, weil Gatow immer verwechselt wird mit dem ehemaligen Flughafengelände. Und da ist so eine schreckliche Musterhaussiedlung entstanden. Ich wohne 15 Minuten mit dem Auto vom Sender entfernt und doch in einer anderen Welt. Der glückliche Umstand wollte es, dass ich dort ein Grundstück bekommen und ein kleines Häuschen darauf gesetzt habe. Direkt an einem Berg, auf dem eine Windmühle steht. Es gibt einen Gutshof und eine Dorfgaststätte, einen kleinen Friedhof. Es ist schon fast beängstigend, wie friedlich und harmonisch das Leben dort ist.

Aber Ihr Bier trinken Sie woanders.

Mein Ausgehkiez ist der Stuttgarter Platz. Da gibt’s eine großartige Kneipe, das Lenz. Da drin hat sich seit 25 Jahren nichts geändert: Kneipenstühle, drei Werbetafeln an der Wand, fertig. Ich verlasse auch gerne mal eine Gala vorzeitig, um mich auf eine Bank vorm Lenz zu setzen und dann über den Platz zu schauen. Das holt einen immer gut wieder runter.

In einem Interview haben Sie mal gesagt, Sie wären gerne Auslandskorrespondent geworden. Nun sind Sie immer noch die Karla Kolumna beim RBB.

Ich habe meinen Frieden gemacht.Das klingt ein wenig resigniert.

Stellen Sie sich vor, Sie sitzen in Kuala Lumpur, Malaysia. 15 Jahre passiert dort – nichts. Vielleicht ein aktuelles Stück für die „Tagesthemen“ im Jahr. Stattdessen ist hier eine Mauer gefallen, eine unbekannte Stadt – Ost-Berlin – eröffnet sich, ein komplettes Umland, das vorher für uns nicht existierte, kommt hinzu. Diese Aufbruchstimmung, das Gefühl: Wir werden Weltstadt. Da gab es so viel zu tun. Das hat alles andere vielleicht – überdeckt?

Der Reporter Ulli Zelle hat seinen Frieden gemacht. Hat der Sänger Ulli Zelle noch Träume?

Ein Auftritt im Olympiastadion wäre schon schön. Aber das schaffen wir wohl nicht. Vielleicht die Waldbühne? Mit so einem kleinen Steg, ins Publikum rein.