Anlassfallen und Wir-Gefühle

Missbrauch und die Charité

Die meisten befassen sich erst mit dem Thema, wenn es einen Fall im eigenen Haus gibt

Der Bericht war dürftig: Die Charité habe im Umgang mit dem Vorfall eigentlich alles richtig gemacht, so die Kurzfassung der Expertenkommission über den Verdacht des sexuellen Übergriffs eines Pflegers auf eine jugendliche Patientin. Die Präventionsmaßnahmen, die sie für die Zukunft vorschlägt, entsprechen dem, was der Runde Tisch sexueller Missbrauch bereits vor über einem Jahr empfahl.

Eigentlich also ein belangloser Bericht – „Persilschein“ nannten ihn manche Journalisten bei der Vorstellung am Montag. Er enthält aber zwei Begriffe, die sich in der Erinnerung festhaken – auf unangenehme Art.

„Anlassfall“ ist einer davon, und er lässt einen erschaudern, denn was sich an diesem Wort zeigt, ist nach wie vor symptomatisch für den Umgang mit sexuellem Missbrauch in vielen Institutionen. Obwohl der Runde Tisch der Bundesregierung längst allen, die mit Schutzbefohlenen arbeiten, empfohlen hat, Ansprechpartner, Präventions- und Notfallpläne einzurichten: Die meisten beginnen erst dann, sich mit dem Thema ernsthaft zu befassen, wenn es einen Vorfall im eigenen Haus gegeben hat. Zu spät also – der sogenannte Anlassfall ist in Wahrheit eine Anlassfalle.

Der zweite und ebenfalls etwas gruselige Begriff ist der des „Wir-Gefühls“: Es stärke bei den MitarbeiterInnen „das Empfinden für Verantwortung“ und „die Aufmerksamkeit für Fehlverhalten“, so der Charité-Bericht. Dass der im „Anlassfall“ der Charité in Verdacht geratene Pfleger, der Jahrzehnte in der Klinik arbeitete, bereits früher sexueller Übergriffe verdächtigt worden war, ohne dass es zu wirksamen Konsequenzen kam, wirft die Frage auf, ob das „Wir-Gefühl“ nicht sensibler betrachtet werden müsste. Denn es kann – falsch verstanden – vielleicht auch ganz andere Folgen haben. ALKE WIERTH