Die Angst vor dem Vergessen

COMIC Na, erinnerst du dich noch? Sarah Leavitts berührende Geschichte „Das große Durcheinander. Meine Mutter, Alzheimer und ich“

Immer wieder zeichnet Sarah Leavitt ihre Mutter recht klein in die Ecke einer ganzen Seite

VON KATJA LÜTHGE

Liebst du mich noch?“, fragt Sarah ihre Mutter. „Ja, weil du so lieb bist“, antwortet diese zwar lächelnd, aber mit abgewandtem Gesicht ihrer traurig-verzweifelt schauenden Tochter. Ein Moment zum Weinen, denn es sind die letzten Worte, die Miriam Leavitt je zu ihrer Tochter Sarah sagen wird – die Krankheit nimmt ihr schließlich den Willen oder die Möglichkeit zur Kommunikation.

„Das große Durcheinander. Meine Mutter, Alzheimer und ich“ ist der Titel einer berührenden autobiografischen „Graphic Memoir“, in der Sarah Leavitt sich der Trauer stellt, die die frühe Demenzerkrankung und der Tod ihrer Mutter für sie und ihre Familie bedeuten. Auf reduzierte Art fragil, ja geradezu zärtlich ist dabei der Strich von Sarah Leavitt, der ein wenig an frühe autobiografische Independent-Comic-Zeichnerinnen wie Roberta Gregory oder später Debbie Drechsler denken lässt. Er verleiht dem Thema wenigstens auf der schwarz-weiß gehaltenen Bildebene Leichtigkeit. Auf den ersten Blick ist die große Liebe erkennbar, die Sarah Leavitt für ihre Mutter empfindet.

Miriam ist erst 52 Jahre alt, als erste Persönlichkeitsveränderungen offenbar werden. Die naturliebende, engagierte Pädagogin und bisweilen rigorose Moralistin wird plötzlich reizbar und scheint immer öfter orientierungslos. Zwei Jahre später kommt unwiderruflich das Urteil: Sie ist an Alzheimer erkrankt. Die folgenden sechs Jahre beschreibt die kanadische Autorin und Zeichnerin Sarah Leavitt als unaufhaltsamen Veränderungsprozess, in dem Miriam sich immer weiter von ihrem einstigen Ich entfernt. Ein Verschwinden, dem Sarah Leavitt von Beginn an mithilfe von Notizen und Skizzen etwas entgegenzusetzen versucht. Sie, die ihr Vorwort mit dem Satz „Ich hatte schon immer ein schlechtes Gedächtnis“ einleitet, möchte jede noch so kleine Erinnerung an ihre Mutter aufbewahren.

Die Verlustängste sind auf jeder Seite spürbar. Die Angst der Tochter, deren räumliche Trennung vom Elternhaus – man wohnt an entgegengesetzten Enden von Kanada – nie ein Problem war, nie mehr die Geborgenheit einer Tochter erleben zu können. Die Angst der Mutter vor dem Nicht-mehr-Wissen und dem daraus resultierenden Nicht-mehr-alleine-Können: „Ich bin ein Nichts! Ich bin keine wirkliche Person mehr!“

Sarah Leavitt bettet die Krankheitsgeschichte ihrer Mutter in eine größere Erzählung über die Familie ein – der frühe Krebstod von Miriams Eltern; die lebenslange innige Verbindung zu den zwei Schwestern, die sich so sehr von der Sarahs zu ihrer jüngeren Schwester Hannah unterscheidet; die mütterliche Fürsorge; die gemeinsame Liebe von Miriam und ihrem Mann für Sprache, Worte und Lieder. Sie zeigt, wie sich das Beziehungsgeflecht der Familie mit der Krankheit verändert. Wie schwer ihr als Tochter der Rollentausch fällt und wie viel Scham und Unsicherheit sie angesichts von körperlichem Verfall, sonderbarem Verhalten und auslaufenden Windeln empfindet. Hervorragend gelingt es der Zeichnerin dabei, die bisweilen überwältigenden Gefühle, die Missverständnisse und Verletzungen in kleine Gesten zu übersetzen.

Die überwiegend chronologisch erzählte Geschichte ist entlang der Krankheitsstadien in drei Kapitel unterteilt, die wiederum in zahlreiche Unterkapitel gegliedert sind. „Schwestern“, „Diagnose“, „Lachen lernen“ „Betreuung“, „Haare“ „Mieze“ „Lücken“, „Ist das eine Banane?“, „Leichter“ oder „Das Ende“ heißen die etwa und ergeben in ihrer Gesamtheit einen präzisen Einblick in den Verlauf der Krankheit.

Immer wieder bricht Sarah Leavitt am Ende dieser in kleine Einzelpanels unterteilten Episoden die Seitenstruktur auf und zeichnet ihre Mutter recht klein in die Ecke einer ganzen Seite. Auf ihnen hebt sie die besonders tragischen, aber auch die skurrilen und lustigen Momente mit Miriam auf. Das dominante Weiß der hintergrundlos gestalteten Seiten scheint dabei aber immer schon auf etwas Entschwindendes und Jenseitiges zu verweisen. Den Schmerz über den Verlust und die Angst vor dem Vergessen kann letztlich auch diese liebevolle „Graphic Memoir“ nicht bannen.

Sarah Leavitt: „Das große Durcheinander. Alzheimer, meine Mutter und ich“. Beltz Verlag, Weinheim 2013. 128 Seiten, 19,95 Euro.