Von der eigenen Familie hingerichtet

PROZESS Nach tödlichen Schüssen auf eine 20-Jährige verhandelt das Landgericht Hagen gegen vier Verwandte des Opfers. Sind Mutter und Onkel Mörder, obwohl sie bei der Tötung nicht dabei waren? Ein Familienrat hat angeblich die Tat beschlossen

Die Mutter hatte ihre Tochter eingesperrt und als „Schlampe“ beschimpft

HAGEN taz | Wegen gemeinschaftlichen Mordes an einer engen Verwandten hat am Landgericht Hagen der Prozess gegen Mitglieder einer ursprünglich aus Syrien stammenden Familie begonnen. Den vier Angeklagten wird vorgeworfen, die Tötung der zur Tatzeit 20 Jahre alten Iptehal A. in einer Art Familienrat beschlossen und sie in einen Hinterhalt gelockt zu haben. Die Mordanklage richtet sich auch gegen die Mutter und einen Onkel des Opfers, obwohl diese bei der unmittelbaren Tötung der Frau offenbar nicht dabei waren.

Iptehal A. war in der Nacht des 31. August 2008 auf dem Parkplatz „Sternbecker Siepen“ der Autobahn 45 bei Lüdenscheid durch mehrere Schüsse ins Gesicht getötet worden. Grund soll der Lebensstil der jungen Frau gewesen sein: Sie traf sich zum Ärger der Familie mit Männern, rauchte in der Öffentlichkeit. Wegen der Unterdrückung durch ihre Verwandten hatte sie bereits Schutz im Frauenhaus Iserlohn gesucht: Ihre Mutter, die seit dem Tod ihres Mannes als Familienoberhaupt anerkannt war, soll sie eingesperrt, geschlagen und als „Schlampe“ und „Hure“ beschimpft haben.

Am 30. August war es der 48-Jährigen trotzdem gelungen, ihre Tochter zum Besuch ihres Elternhauses zu überreden – einen Tag später war Iptehal A. tot.

Angeklagt sind neben der Mutter zwei Onkel und ein Bruder des Opfers. Sie hätten sich des „Mordes aus niedrigen Beweggründen“ schuldig gemacht, so Staatsanwalt Klaus Knierim. Die Familie habe gewusst, dass Iptehal eine eigene Wohnung mieten und sich so noch weiter „der Kontrolle der Familie entziehen“ wollte.

Ein Cousin war bereits 2010 zu 14 Jahren Haft verurteilt worden. Er hatte zugegeben, die 20-Jährige festgehalten zu haben, während ein Onkel auf sie geschossen haben soll. Seine Verteidigung, er sei dazu mit Waffengewalt gezwungen worden, glaubten ihm die Richter nicht. Im laufenden Prozess beschuldigen sich der Onkel und Iptehals Bruder gegenseitig, die tödlichen Schüsse abgegeben zu haben. Die Mutter und der zweite Onkel waren an den tödlichen Schüssen offenbar nicht unmittelbar beteiligt – nach Ansicht der Staatsanwaltschaft waren sie nicht auf dem Parkplatz, als die junge Frau erschossen wurde. Wegen Mordes verantworten müssen sie sich trotzdem. „Das Gericht klärt die Mittäterschaft“, so Landgerichtssprecher Jan Schulte zur taz. „Juristen nennen das ‚Tatherrschaft‘ “, sagt er. „Die Frage ist: Wussten und wollten beide, dass Iptehal A. getötet werden sollte?“

Damit erinnert das Verfahren an den Prozess gegen die Familie von Arzu Özmen: Bundesweit einmalig, hatte das Landgericht Detmold den Vater Arzus erst Anfang Februar wegen Beihilfe zum Mord durch Unterlassen zu mehr als sechs Jahren Haft verurteilt. Auch er war bei der Tötung seiner Tochter nicht persönlich anwesend, auch Arzu Özmen war auf einem Autobahnparkplatz erschossen worden. Das Urteil gilt als Präzedenzfall.

Im aktuellen Prozess in Hagen werden die vier Angeklagten von acht Anwälten vertreten. Die drei Männer wollten sich beim Prozessauftakt nicht zu der Anklage äußern. Nur die Mutter wies den Mordvorwurf äußerst vehement zurück.

Die Richter haben bis Ende Juni bereits 33 Verhandlungstage angesetzt. Zunächst soll das Motiv durch ein „ethnopsychologisches Gutachten“ ausgeleuchtet werden. „Vielleicht“, sagt Gerichtssprecher Schulte, „wird dann klarer, warum jemand seine persönlichen Vorstellungen, wie ein richtiger Lebensstil aussehen soll, über den Wert eines Menschenlebens stellt“.

ANDREAS WYPUTTA