Inszenierte Normalität

Wenn „Hilfe zur Erziehung“ versagt: Der Prozess gegen die Eltern der zweijährigen Michelle, die nach Vernachlässigung starb, offenbart auch erschreckende Leichtfertigkeit zuständiger Sozialarbeiter

Die Sozialarbeiterin war beeindruckt, wie die sechsfache Mutter „alles im Griff hatte“

von ELKE SPANNER

Ihr Tod hat kein so starkes öffentliches Interesse erregt wie der Hungertod der siebenjährigen Jessica. Vielleicht, weil bei der zweijährigen Michelle zwischen die schwere Vernachlässigung und den Tod im August vergangenen Jahres eine Mandelentzündung trat ist, die die Schuld der Eltern nur abgeschwächt erkennen lässt? Oder wiegt das Leid eines Kindes weniger schwer, wenn es darin in Gesellschaft seiner Geschwister ist?

„Fragen über Fragen“, sagt auch der Vorsitzende Richter am Landgericht, das zurzeit aufklären muss, was sich in der Lohbrügger 3-Zimmer-Wohnung der Familie abgespielt hat. Sechs Kinder hatten die Eltern von Michelle. Alle hätten „zahlreiche, vielfältige und tief greifende Schäden“ aufgewiesen, die durch langwierige körperliche und emotionale Vernachlässigung entstanden seien. Das sagte gestern im Prozess eine psychologische Gutachterin. Das weiß man jetzt, wo Michelle tot ist und die anderen Kinder unverzüglich aus der Familie genommen wurden. Man hätte es aber auch vorher schon erkennen können: Sozialarbeiter waren regelmäßig bei der Familie zu Besuch.

Die zuständige Betreuerin selbst fand es zwar eine schlimme Vorstellung, dass die Kinder den ganzen Tag in diesen „düsteren“ Räumen seien. Weil sie einen Umzug in eine größere Wohnung vorbereitete, sah sie aber keinen Anlass mehr, auf Ordnung zu drängen. In einem ihrer Vermerke heißt es gar, sie sei „verwundert, wie die Mutter trotz ihrer sechs Kinder alles im Griff hat“.

Als dieser gestern zitierte Vermerk angefertigt wurde, konnte von einem kindgerechten Leben der sechs Geschwister aber schon lange keine Rede mehr sein. Mindestens 18 Monate, konstatierte die psychologische Gutachterin, war der Zustand der Kinder da bereits „katastrophal“. Die Wände der Zimmer waren mit Kot verschmiert, überall schwirrten Fliegen und Ungeziefer herum. Keines der Kinder wusste, wie man zur Toilette geht. Gemeinsames Essen gab es nicht, den älteren Kindern wurde für alle etwas in die Hand gedrückt, ehe die Türen der Kinderzimmer wieder hinter ihnen abgeschlossen wurden.

Michelle, so erzählte später ihre Schwester Laura, saugte nachts bei hohem Fieber vor Durst an der Gardine, auf das verzweifelte Klopfen und Rufen der Geschwister jedoch reagierten die Eltern, Nicole G. und Andreas J., nicht. Leon, der älteste Sohn, konnte mit sechs Jahren kaum sprechen, die Begriffe für Alltagsgegenstände wie „Auto“ oder „Baum“ waren allen unbekannt. Zwei Kinder schlugen ständig mit ihrem Kopf gegen die Wand. Sophie, bei ihrer Ankunft im Heim eineinhalb Jahre alt, lag nur apathisch im Bett und reagierte nicht einmal auf Ansprache.

Heute kann sich jene Sozialarbeiterin selbst nicht mehr erklären, wie ihr das Elend entgehen konnte. Für 6,5 Stunden „Hilfen zur Erziehung“ war sie jede Woche in der Wohnung, hat mit der Mutter geplaudert und deren Erzählungen über die Kinder geglaubt – ohne mit diesen selbst in Kontakt zu treten. „Das Verhältnis zwischen Glauben und Kontrolle hat hier nicht gestimmt“, räumte gestern eine Juristin des zuständigen Bezirksamtes Bergedorf ein. „Sozialarbeiter sehen in erster Linie ihre Beziehungsarbeit und glauben: Wenn die stimmt, regelt sich alles von selbst.“

Nichts hat sich geregelt. Statt die Hilfe anzunehmen, haben die Eltern auch gegenüber der Sozialarbeiterin Normalität inszeniert. Normalität ist für Familien, die ihre Kinder vernachlässigen, offenbar ein wichtiges Wort. So beharrten die Eltern der verhungerten Jessica, wegen Mordes zu lebenslanger Haft verurteilt, selbst nach dem Tod der Tochter darauf, zu Hause sei alles „ganz normal“ gewesen. Nach außen hin waren sie in der Tat so unauffällig, dass keiner der Bekannten ahnte, welch ein Grauen sich in ihrer Hochhauswohnung abspielte.

Auch Nicole G. und Andreas J. errichteten eine Fassade bürgerlichen Familienlebens – und täuschten die Sozialarbeiterin über das Ausmaß des Elends hinweg. Die Mutter, heute 28 Jahre alt, sei immer freundlich und kooperativ gewesen. Natürlich werde sie ihre Kinder nun bei einer Krankenkasse anmelden, habe sie beteuert. Den Gutschein für eine Tagesbetreuung werde ihr Mann gleich vom Jugendamt abholen, er sei schon unterwegs. Die Sozialarbeiterin hat der Mutter geglaubt und keine ihrer Lügen überprüft. Inzwischen ermittelt die Staatsanwaltschaft gegen sie und zwei weitere Mitarbeiter der Jugendhilfe.

Kontrolle ist in Zusammenhang mit Sozialarbeit ein umstrittenes Wort. Durch Fälle wie diesen gewinnen die Befürworter stärkerer Kontrolle gute Argumente. So wusch Nicole G. die Kinder ausnahmsweise und räumte das Wohnzimmer auf, wenn die Sozialarbeiterin sich angekündigt hatte. Warum also sollte diese noch einen Blick in die Kinderzimmer werfen wollen? Und schaffte Nicole G. den Aufwand dieser Inszenierung einmal nicht, dann sagte sie den zuvor verabredeten Besuchstermin einfach ab. Anlass zum Misstrauen? Nein.