Keine Lösung im Eilverfahren

Heute debattiert die Bürgerschaft über die Einsetzung einer Enquetekommission zur Schulstruktur. Dafür plädiert Ex-Schulsenatorin Rosemarie Raab in der taz. Das bloße Umtaufen von Schulen helfe nicht, die Bildungsarmut zu verringern

Hamburgs 15-Jährige sind keineswegs durchgehend am Ende der LeistungsskalaBringt man Pisa auf einen Nenner, gilt es, die Folgen familiärer Armut auszugleichen

von Rosemarie Raab

Nach der Hamburgischen Verfassung können zur Vorbereitung von Entscheidungen über bedeutsame Sachkomplexe Enquetekommissionen eingesetzt werden. Im Schulbereich geschah dies zuletzt 1992. Mit weitreichenden Folgen – wie zum Beispiel der Einführung der Verlässlichen Halbtagsgrundschule, der Flexibilisierung der Einschulung und der Stärkung der Mitwirkungsrechte sowie der Ausweitung der Eigenständigkeit der einzelnen Schule im Schulgesetz von 1997.

Heute soll nun auf Antrag der Opposition eine Enquetekommission „Konsequenzen der neuen Pisa-Studie für Hamburgs Schulentwicklung“ beschlossen werden. Die CDU und Bildungssenatorin Alexandra Dinges-Dierig aber planen (daneben) eine eigene Kommission. Deren Auftrag steht bereits fest: „Angesichts des schlechten Abschneidens Hamburger Schüler beim Pisa-Ländervergleich will die CDU Haupt-, Real-, Integrierte Haupt- und Real- sowie Gesamtschulen in Anlehnung an das sächsische Modell zu einer neuen Mittelschule zusammenfassen“, berichtet die Welt und zitiert CDU-Schulpolitiker Robert Heinemann: „Die Vorschläge könnten problemlos innerhalb von drei Monaten auf dem Tisch liegen.“

Eine solche Zeitvorgabe ist „kühn“. Sie lässt befürchten, dass die Pisa-Befunde nur sehr oberflächlich zur Kenntnis genommen wurden. Bei genauerem Hinsehen und Einbeziehung der Hamburger Untersuchungen ergibt sich eine so komplexe Problemlage, dass sich einfache und schnelle Lösungen ausschließen.

Den Kern der Problemlage bilden die fast 30 Prozent Hamburger Schülerinnen und Schüler, die im Sprachgebrauch der Pisa-Studie als „Risikogruppe“ bezeichnet werden. Diese Schüler verfügen über nur gering ausgeprägte Kompetenzen in den Bereichen Leseverständnis, Mathematik und Naturwissenschaften. Sie stammen vorwiegend aus sozialen Brennpunkten und armen Elternhäusern, viele von ihnen haben einen Migrationshintergrund. Sie sind in Hauptschulen, Realschulen und Gesamtschulen anzutreffen – und in Förderschulen. Maßgeblich ist damit weniger die besuchte Schulform als vielmehr das sozialstrukturelle Umfeld der jeweiligen Schule. Nicht einmal die Hälfte dieser „Risikoschüler“ erhält im Anschluss an die Pflichtschulzeit einen Ausbildungsplatz. Jährlich rund 3.000 junge Menschen gehen leer aus. Damit tragen sie das höchste Risiko, nicht in den Arbeitsmarkt integriert zu werden. Sie drohen – wie es der Soziologe Ulrich Beck im Zusammenhang mit der Vorstadtrevolte in Frankreich formuliert hat – „die Überflüssigen“ zu werden.

Wenn es denn so wäre, dass die „Risikoschüler“ Folge allein eines „zergliederten“ Schulwesens wären, dann läge, wenn schon nicht die finnische, so doch zumindest die „sächsische“ Lösung eines (vermeintlich) zweigliedrigen Schulsystems auf der Hand. Aber es ist nicht so. Hamburger 15-Jährige sind keineswegs durchgehend am unteren Ende der Leistungsskala zu finden. Dazu aber darf man nicht nur auf die Gesamtmittelwerte schauen, sondern auch auf die berichteten Gruppenvergleiche.

Betrachtet man beispielsweise die Kompetenzen der Schülerinnen und Schüler mit und ohne Migrationshintergrund getrennt, dann liegen die Hamburger 15-Jährigen jeweils eher im „Mittelfeld“; diejenigen, deren Eltern aus der Türkei stammen, erreichen in Hamburg in allen Leistungsbereichen höhere Kompetenzwerte als in Bayern. Es ist also keineswegs so, dass Schulen in den Pisa-Spitzenländern der Republik diese Schülergruppen besser fördern würden als die Hamburger Schulen. Nur sind die Gruppen mit hohen Anteilen an „Risikoschülern“ in einer Metropole wie Hamburg ungleich größer als in einem Flächenland – mit der Folge niedrigerer Gesamtmittelwerte.

Bringt man die Pisa-Befunde auf einen Nenner, so gilt es, die Folgen familiärer Armut im Schulwesen auszugleichen. Denn geringe Kompetenzen gehen mit geringem ökonomischen, sozialen und kulturellen Kapital der Familien einher. Dem Schulsystem – nicht nur in Hamburg – ist dies bis heute nicht gelungen. Daran würde das bloße Umtaufen von Haupt- und Realschulen oder von Gesamtschulen, die in den Armutsgebieten dieser Stadt liegen, in „Mittelschulen“ nicht viel ändern. Der Verzicht auf eine Trennung nach Haupt- und Realschülern bzw. Kurs-II- und Kurs-I-Schülern ist schon heute möglich. Er ließe sich ohne große bildungspolitische Debatten mit klugen pädagogischen Konzepten umsetzen.

Die zu lösenden Probleme greifen tief in die Strukturen dieser Stadt ein, denn in Hamburg ist nach Pisa die Kluft zwischen armen und reichen Familien am größten. Sie eignen sich nicht für Beschlüsse im Eilverfahren. Eine Enquete-Kommission hat die Chance, auf der Grundlage der heute verfügbaren empirischen Daten bis zu den Wurzeln der zu lösenden Probleme vorzudringen. Das kann eigentlich niemand ablehnen.