Die üblichen Krisen

„10. Strafkammer, Momentaufnahmen“ zeigt den Alltag eines Bezirksgerichts in Frankreich (23.15 Uhr, WDR)

Der Mann ist nach der Arbeit noch zu einem Bekannten gegangen. Dort hat er ein, zwei Caipirinhas getrunken. Es hat sich so ergeben, man will ja nicht unhöflich sein. Danach musste er mit dem Auto nach Hause, nur eine Abfahrt weiter auf der Stadtautobahn, aber es hat gereicht, dass ihn die Polizei erwischt hat. Und jetzt steht er vor der Richterin, in einem der kleinen Verfahren, die am Bezirksgericht des 10. Arondissements in Paris verhandelt werden. Und er steht vor der Kamera: „10ème Chambre, Instants d’audience“ („10. Strafkammer, Momentaufnahmen“) heißt der Dokumentarfilm von Raymond Depardon, der in dieser Außenstelle der staatlichen Gewalt spielt. Die Fälle werden tatsächlich gespielt. Gerichtsverhandlungen dürfen nicht gefilmt werden, deswegen hat Depardon eine Form der Darstellung gesucht, die möglichst nahe an der Faktizität ist: Die Richterin, die Staatsanwälte, Verteidiger und die Delinquenten spielen sich selbst. Sie stellen die Szene vor Gericht für die Kamera nach.

Depardon hat sich eine gesellschaftliche Nahtstelle ausgesucht – einen Ort, an dem Frankreich sein republikanisches Selbstverständnis mit kleinen Störungen vermittelt. Die Dramaturgie des Films, die Abfolge der Fälle, ist dabei von entscheidender Bedeutung. Sie kommentieren einander, nicht im Sinne einer Balzac’schen Panoramatik, sondern im Sinne einer Mikropolitik: Unter den Taschendieben und Drogenhändlern sind viele Ausländer. Ein junger Mann, der unter Anklage steht, seine Ehefrau sieben Jahre misshandelt zu haben, ist maghrebinischer Herkunft. Aber auch ein (mutmaßlicher) Anhänger der Rechten steht vor Gericht, wegen illegalen Führens einer Waffe.

Raymond Depardon ist Fotograf und Filmemacher. Seine Beobachtungen am 10. Bezirksgericht stehen in einer Reihe von Arbeiten, in denen Depardon als „unsichtbarer Beobachter“ die Institutionen gefilmt hat, die täglich mit den Krisenfällen zu tun haben. In „Faits Divers“ („Vermischte Nachrichten“, 1983) war es ein Polizeirevier im 5. Arondissement, in „Urgences“ („Notaufnahme“, 1987) war es eine psychiatrische Abteilung des städtischen Krankenhauses Hotel-Dieu in Paris, in „Délits flagrants“ („Auf frischer Tat“, 1994) ging es um die Erstverhöre nach kleinen Delikten.

In den 60er-Jahren arbeitete Depardon als Fotograf für die Agentur Magnum. Das Jahr 1968 hat er an allen entscheidenden Orten miterlebt, sein Interesse für die Politik wurde damals geschärft. Er ist aber auch ein Reisender, der viele Filme in Afrika gedreht hat und die Bewohner der Sahara genauso gut kennt wie die Bauern in seiner südfranzösischen Heimat oder die Medienwelt, der er selbst angehört. Zwischen der Wüste und dem 10. Arondissement liegen Welten, die wenige Filmemacher miteinander vermitteln könnten: Depardon gelingt es, indem er sich zurücknimmt. Bert Rebhandl