BARBARA BOLLWAHN über ROTKÄPPCHEN
: Angleichung der Lebensverhältnisse

Weggeschaut wurde schon zu Ostzeiten: Ich hab es genau gesehen und Tagebuch darüber geführt

Mord und Totschlag sind längst auch im Osten an der Tagesordnung. In diesem Punkt kann man wirklich von einer Angleichung der Lebensverhältnisse sprechen. Sieht man von den Toten an der Mauer mal ab, hat der Osten bei den Verbrechen ordentlich aufgeholt. Männer, die ihre Frauen umbringen, Jugendliche, die Obdachlose überfallen, Eltern, die ihre Kinder verhungern lassen, sind keine Horrorgeschichten mehr aus dem „Schwarzen Kanal“. Sie passieren hüben wie drüben.

Nur ist der Aufschrei oft viel größer, wenn der Osten Schauplatz eines unfassbaren Verbrechens geworden ist. Dann setzt ein Wehklagen über das Wegschauen in der Gesellschaft ein und über den Werteverfall, ganz so, als ob die Werte im Westen schon lange den Bach runtergegangen wären. Aber doch nicht im Osten, mit dem viel gerühmten Zusammenhalt, den intakten Nachbarschaften, in denen jeder über jeden Bescheid weiß. Dass ich nicht lache. Wo soll der Zusammenhalt denn hin sein nach so vielen Jahren? Verschwunden isser. XY ungelöst.

Ich bin, wie es so schön heißt, behütet aufgewachsen. Ohne Verbrechen, ohne Gewalttaten. Blut ist aber jedes Jahr geflossen. Immer im Winter, wenn auf dem Hof von Oma Elfriede in Sachsen-Anhalt ein Schwein geschlachtet wurde. Wir Kinder trieben die quiekende Sau durchs Dorf und drückten uns die Nasen am Küchenfenster platt, wenn der Fleischer das Tier mit einem gezielten Schuss aus dem Bolzenschussgerät zur Strecke brachte und sich dann einen Schnaps genehmigte. Mit Begeisterung rührte ich das noch heiße Blut.

Brutal fand ich ein anderes Erlebnis, bei dem ebenfalls Tiere getötet wurden. Als unsere Katze Junge bekommen hatte und meine Eltern nichts von dem Nachwuchs wissen wollten, beschlossen sie, die kleinen Kreaturen beiseite zu schaffen. Weil mein Vater sich das nicht traute, überließ er diese Arbeit seinem Vater, Opa Willi. Opa Willi war als junger Mann in Kriegsgefangenschaft gewesen und machte nicht viel Federlesen: Er schlug ein Katzenbaby nach dem anderen gegen die Garagenwand. Ich fragte mich, ob man das so einfach machen durfte. Offenbar durfte man. Zumindest hat sich niemand dafür interessiert.

Blutrünstig oder abgestumpft bin ich wegen der Schweine- und Katzengeschichten aber nicht geworden. Im Gegenteil. Ich reagierte äußerst sensibel auf meine Umwelt. Erst recht, wenn menschliches Blut floss. Am 29. April 1977 hatte ich ein Erlebnis, das mich tief erschütterte und am Sozialismus zweifeln ließ. Ich sah das erste Mal in meinem Leben einen Jungen, der verprügelt worden war. Ich weiß das Datum noch so genau, weil ich darüber einen Tagebucheintrag verfasst habe. „Als ich heute mit dem Zug nach Geithain kam, stieg ich aus und sah einen Jungen, der weinte und im Gesicht blutete“, lautete der erste Satz. „Als ich aus dem Bahnhofsgebäude rauskam, sah ich einige Jungs, die schauten schon so. Die hatten den Jungen bestimmt verprügelt.“ Ich traute mich nicht, sie zur Rede zu stellen. Ich war erst 13. Genauso wenig sprach ich den blutenden Jungen an.

Aber sein Bild verfolgte mich den Rest des Tages. „Er tat mir so leid. Ich muss immer daran denken. Wie das Gesicht des Jungen aussah! Wie wird es dem Jungen bloß jetzt gehen? Hoffentlich hat er einen Freund, der ihn versteht oder ihm hilft.“

Besonders machte mir dieses Gefühl zu schaffen, dass der Junge aus einer Familie stammen könnte, wie es sie bei uns eigentlich nicht gab. Er hatte schmutzige, kaputte Kleidung an und sah für mich aus wie ein Kind, um das sich die Eltern nicht wirklich kümmern. „Er kam bestimmt aus einer Familie mit nicht guten Verhältnissen“, schrieb ich mit Tinte in mein Tagebuch. „Ach, wenn man solchen Kindern bloß helfen könnte! Hoffentlich wird er nicht noch mal verprügelt. Ich hoffe bloß, dass es ihm jetzt besser geht.“

Ich konnte damals nicht glauben, dass niemand Notiz von dem Jungen nahm, wie er allein, blutend und weinend auf der Bahnhofsbank saß. Weggeschaut wurde schon im Sozialismus. Das hab ich genau gesehen.

Fragen zum Verbrechen? kolumne@taz.de Morgen: Dieter Baumann über LAUFEN