Sichtbar machen

Von verschwundenen Tagelöhnern, rassistischen Arbeitsmärkten, Muscheln und Fußballfans: Noch bis zum 21. Dezember laufen im 3001 Kino die 17. lateinamerikanischen Filmtage

„Wie macht man etwas sichtbar, das unsichtbar ist? Indem man es verschwinden lässt!“Eindringliche Bilder zeigen die schlechten Lebensbedingungen papierloser Arbeitsmigranten

von Gaston Kirsche

Un día sin mexicanos, „Ein Tag ohne Mexikaner“, ist nur eine der Perlen im Programm der diesjährigen, nunmehr 17. Lateinamerikanischen Filmtage, die wieder einmal die Vielfalt aktueller Filmproduktionen von südlich des Rio Grande präsentieren. In Mexiko ist Un día... der zweiterfolgreichste Kinofilm des Landes überhaupt, gedreht hat Regisseur Sergio Arau seine rasante Komödie indes in den USA.

Zu Beginn sind sie noch da im goldenen Sonnenschein-Staat im Südwesten der USA, bei der Erntearbeit auf den Feldern, beim Putzen: die schlecht bezahlten Arbeiter und Tagelöhner, die Haushaltshilfen mit den spanischen Namen. Viele von ihnen ohne Papiere, arbeiten sie im Verborgenen. Als Mary Jo Quintana (Maureen Flannigan) aufwacht, liegt ihr Mann Roberto nicht mehr neben ihr, und auch der gemeinsame Sohn ist spurlos verschwunden. Die Zahnspange ist noch da, auch sonst alles. Rückblenden zeigen Roberto als Sänger einer Latino-Rockgruppe namens „Los Perros mojados“.

Mary Jo schaltet den Fernseher ein – es werden hunderte Vermisste gemeldet. Allmählich wird klar: Aus Kalifornien ist ein Drittel der Bevölkerung verschwunden, 14 Millionen Menschen. Wer bis zum Vortag als Latino, Hispanic oder Chicano angesehen wurde, der ist weg. Gleichzeitig ist Kalifornien entlang der Landesgrenzen von einem undurchdringlichen Nebel umgeben und von der Außenwelt abgeschnitten. Der Müll bleibt liegen, Baustellen geschlossen, in den Städten setzen Panikkäufe ein, weil nichts mehr geerntet wird. Wer früher Drogen verkauft hat, dealt jetzt mit Tomaten. Senator Abercrombie (John Getz) ruft den Ausnahmezustand aus und verkündet, auch ohne Latinos würden sich genug Erntehelfer finden, die sogar viel effektiver arbeiten würden.

Nicht verschwunden ist Lila Rodriguez (Yareli Arizmendi), die sich beim lokalen Fernsehen als Lisa Rod beworben hat. Als bei Testaufnahmen klar wird, dass sie familiär einen mexikanischen Migrationshintergrund hat, fordert ihr neuer Chef sie auf, doch mit starkem spanischen Akzent zu sprechen und spanische Wörter einfließen zu lassen – sie soll die stereotype Latina geben.

Un día sin mexicanos spielt auf amüsante Weise mit ethnischen Zuschreibungen: Als letzte verbliebene Latina wird Lila Rodriguez zum Versuchskaninchen für Experimente, bei denen der genetische Code für das Latino-Sein ermittelt werden soll. Ihr dämmert, was passiert ist: „Wie macht man etwas sichtbar, das unsichtbar ist? Indem man es verschwinden lässt!“

27 Jahre vor Un día sin mexicanos, 1977, entstand der wie ein Dokumentarfilm wirkende ¡Alambrista!, inzwischen längst ein Klassiker des Cine Chicano, jenes Subgenres von Filmen über Einwanderer aus dem Süden. Ein junger Mexikaner (Domingo Ambriz) entscheidet sich, in die USA zu gehen, um dort zu arbeiten. In eindringlichen Bildern werden da die schlechten Lebensbedingungen für Arbeitsmigranten ohne Papiere gezeigt: Ein Jahr lang hatte Regisseur Robert M. Young vor Drehbeginn unter ihnen gelebt. Auf den Lateinamerikanischen Filmtagen ist ¡Alambrista! als neu herausgebrachter Director‘s Cut aus dem Jahr 2004 zu sehen – und mit einem neuen Soundtrack.

Auch in Israel Adrián Caetanos Spielfilm Bolivia ist der Protagonist ein Einwanderer ohne Papiere – allerdings keiner in den Vereinigten Staaten. Im argentinischen Buenos Airos schlägt Freddy, der aus dem von extremer Armut geprägten Bolivien gekommen ist, sich mit den Widrigkeiten eines nicht minder rassistisch strukturierten Arbeitsmarktes herum. „Hätte ich Freddy als einen armen Typen dargestellt“, sagt der selbst aus Urugay nach Argentinien emigrierte Regisseur, „wäre ich selber rassistisch gewesen.“

Neben weiteren Beiträgen über die Migration und mit ihr zusammenhängende Aspekte ist ein weiterer herausragender Spielfilm Lugares Comunes, „Gemein(same)plätze“, von Regisseur Adolfo Aristarain, ebenfalls aus Argentinien. Darin muss der Pädagogikprofessor Fernando Robles – einfühlsam gespielt von dem außergewöhnlichen Schauspieler Federico Luppi – zusammen mit seiner spanischen Frau umzugehen lernen mit seiner wie aus heiterem Himmel bevorstehenden Pensionierung. Auf dem Filmfestival von Fribourg erhielt der Film vor zwei Jahren den Publikumspreis.

Und es gibt eine kleine Werkschau mit drei Spielfilmen des jungen chilenischen Regisseurs Andrés Wood. Neben seinem neuesten Streifen Machuca – über eine Kinderfreundschaft zur Zeit des chilenischen Militärputsches – und der Muscheln-und-Ganoven-Komödie La fiebre del loco („Das Locofieber“) – werden seine „Fußballgeschichten“ (Historias de fútbol) gezeigt: drei Episoden über die Begeisterung chilenischer Fans des runden Leders während der Qualifikationsspiele für die WM 1998.

Programm mit Filmbeschreibungen: www.cinelatino.de