DIETER BAUMANN über LAUFEN
: Lieber Herr, gib mir eine Sahnetorte!

Schily, Schröder und Co. leben es doch vor: Ideale kommen, Ideale gehen. Nur ich laufe ihnen immer nach

Eigentlich war ich zu müde, um zu laufen, und trotzdem tapste ich durch den Wald. Nein, schön war es nicht, und logischerweise stellte ich mir bei diesem Dauerlauf die Sinnfrage: „Warum bleibst du nicht einfach zu Hause, und es wird ein schöner Tag?“ Aber das ging nicht, denn ich hatte mich mit meiner Tübinger Laufgruppe verabredet.

Das sind alles junge, talentierte und motivierte Läufer. Parallel besuchen sie alle die Universität. Sie studieren ganz unterschiedliche Sachen, und so kann es bei einem Dauerlauf zu fakultätsübergreifenden Diskussionen kommen. So war es bei diesem Dauerlauf zu Beginn der Woche auch, und ich dachte, da lohnt es sich dranzubleiben und um den Anschluss zu kämpfen.

Ausgangspunkt war der Tortenwurf von Tübingen. Ein Thema von großer lokaler Bedeutung. Ein Student hatte bei einer feierlichen Stunde der Universität im Beisein des Rektors eine Sahnetorte ins Gesicht eines Professors geworfen, der einen Festvortrag gehalten und sich in der Vergangenheit als Fürsprecher der Studiengebühren verdient gemacht hatte. Der Student hatte die Torte als Geschenk getarnt, drei Helfer sprangen überraschend mit aufs Podium und hielten den Kopf des Professors fest. Lange ging die Staatsanwaltschaft der Frage nach: Körperverletzung oder Sachbeschädigung?

Die Wogen in Tübingen haben sich bis heute nicht geglättet und haben sogar so wichtige Themen wie die Schwäne des Anlagensees oder die Tag- bzw. Nachruhe der Fledermäuse des Schlosses aus den Schlagzeilen verdrängt. Der Tortenwerfer ist mit einem zweijährigen Hausverbot bestraft worden, und nun tauchen aus Solidarität für ihn immer wieder Sahnetorten in Hörsälen und Fluren der Universität auf. „Als Ausdruck eurer Solidarität müsstet ihr bei eurem nächsten Sieg bei der Siegerehrung eine Sahnetorte in die Höhe halten. Immerhin hat der Kerl zwei Jahre Hausarrest bekommen“, warf ich in die Diskussion ein, schwer nach Atem ringend, denn wir liefen einen Anstieg hinauf. „Wir könnten ihn diese Woche …“ – mehr von der Antwort hörte ich nicht mehr, denn ich verlor den Anschluss zur Gruppe. Heckten die einen Plan aus? Doch ich war zu müde, konnte nicht mithalten. Warum nur laufen?

Sobald die Strecke wieder flach wurde, war ich wieder dran und verstand nur noch: „ … genau überlegen, was man studiert. Medizin zum Beispiel geht gar nicht mehr. Zu lange Ausbildung, scheiß Arbeitszeiten und wenig Kohle. Leistung ist gut, aber man sollte sich was dafür kaufen können.“ Der Philosoph unserer Gruppe – er studiert allerdings etwas ganz anderes – meinte dazu: „Man studiert doch nicht Medizin, um nachher viel Geld zu verdienen.“ In erster Linie wolle man doch mit dem Medizinstudium der Menschheit helfen. Dies sei der Sinn des Studiums, nicht das Geld. „Schließlich muss man nach seinen Idealen streben.“ Ich wollte ihm zustimmen, allerdings nahm mir ein erneuter Anstieg die Luft zum Reden und so quälte ich mich den Berg hinauf. Die Jungs zogen auf und davon. Nach seinen Idealen streben? Scheiß Lauferei heute.

Im Übrigen machen es Führungspersönlichkeiten der deutschen Politik in Sachen Ideale doch vor. Heute Kanzler, morgen Berater eines Verlagshauses. Ideale eines Abzockers, mehr auch nicht. Ein anderer forderte früher den Rechtsstaat für linksgerichtete Terroristen ein, heute will er laut Berichten einer amerikanischen Zeitung nichts mehr von den Idealen des Rechtsstaates wissen. Und welche Ideale bleiben uns, fragte ich mich? Die wilden Proteste waren vorbei. Die „falschen Häuptlinge“ waren verjagt, „alles“ war erlaubt. Als Ersatzhandlung gingen wir Händchen haltend auf die Autobahn und bildeten Menschenschlangen gegen Pershing-Raketen.

Nach dem steilen Berg warteten die Jungs auf mich. „Na bitte“, sagte ich, „das sind doch Ideale“: echte Freundschaft. „Wieso Freundschaft, wir sind die Generation, die zunächst einmal nur Spaß will. Und wir werden uns doch diesen Spaß nicht nehmen lassen, dich einmal beim Laufen leiden zu sehen.“ Eine Sahnetorte, dachte ich. Lieber Herr, gib mir eine Sahnetorte!

Fragen zum Ideal? kolumne@taz.de Morgen: Philipp Maußhardt über KLATSCH