Der Stuhl des Exdiktators bleibt frei

Im Prozess gegen Saddam Hussein in Bagdad weigert sich der Hauptangeklagte, weiter an den Verhandlungen teilzunehmen. Das Verfahren wird dennoch fortgesetzt. Zeugen berichten von Folterungen nach dem Massaker in dem Dorf Descheel

VON KARIM EL-GAWHARY

Plötzlich fehlte der Hauptdarsteller. Am fünften Tag des Prozesses gegen den ehemaligen irakischen Diktator weigerte sich Saddam Hussein, den Gerichtssaal zu betreten. Nach einer mehrstündigen Verzögerung wurde das Verfahren schließlich aber doch ohne ihn fortgesetzt. Sein Sitz zwischen den sieben Mitangeklagten blieb leer.

Diesen Schritt hatte der 68-Jährige bereits am Dienstag angekündigt. „Ich werde nicht mehr vor diesem Gericht erscheinen. Fahrt zur Hölle“, waren seine letzten Worte an den Richter. Zuvor hatte er sich über die Haftbedingungen beschwert. Nach zwei Verhandlungstagen habe er nichts Ordentliches mehr zum Anziehen, sagte er laut Gerichtskreisen. Außerdem beschwerte er sich über das „ungerechte Gericht“, das den Zeugen der Anklage mehr Zeit zur Verfügung stelle als den Angeklagten.

Tatsächlich hatte nach zunächst zwei stürmischen Sitzungstagen, in denen das Verteidigerteam Saddam Husseins die Legitimität des Gerichtes angezweifelt und sich über die mangelnde Sicherheit der Anwälte beschwert hatte, die Stunde der Zeugen geschlagen. Insgesamt sechs Zeugen traten bisher auf, darunter fünf, die anonym hinter einem Vorhang mit technisch verzerrter Stimme aussagten. Sie schilderten grausige Details über die Ermordung von 148 Menschen und die Verhaftung hunderter anderer Bewohner des schiitischen Dorfes Descheel vor 23 Jahren durch den Sicherheitsapparat Saddam Husseins. Bei einer Verurteilung droht den Angeklagten die Todesstrafe.

Den Höhepunkt stellte die Aussage der so genannten Zeugin A. dar, die immer wieder mit vor Emotionen abbrechender Stimme ihre Erlebnisse als damals 16-Jährige beschrieb. „Sie haben mir die Kleider abgenommen und meine Beine hochgenommen. Dann haben sie mir Handschellen angelegt und mich mit Elektrokabeln geschlagen … Das war nicht nur einer, sondern fünf Männer, die das einer irakischen Frau angetan haben, die Saddam in seinen Reden immer als die rühmlichste aller Frauen bezeichnet hatte“, erzählte die hörbar aufgebrachte Frau. „Sie haben uns in einen dunklen Raum gesperrt und uns in der Nacht Brot zugeworfen, aber wir konnten nicht essen, nachdem wir gefoltert worden waren“, fügte sie hinzu. Dann berichtete sie von einem taubstummen Verwandten, der am Penis in die Zelle der Frauen hereingezogen worden war. Schwangere Frauen seien in Handschellen gefangen gehalten worden, sogar während der Geburt. Dabei hätten Wächter die anderen Frauen davon abgehalten, zu Hilfe zu kommen. „Eine Frau musste auf diese Weise hilflos zusehen, wie ihr Baby zwischen den Beinen baumelte“, endete die Zeugin A. ihren entsetzlichen Bericht.

Die Weigerung Saddams, künftig vor Gericht zu erscheinen, wirft einen zusätzlichen Schatten auf den ohnehin schon chaotischen Prozessverlauf. Ausgewählte Journalisten waren zunächst gestern Mittag in den Gerichtssaal zitiert worden, um den Prozess zu beobachten, ohne dass aber der Vorhang, der die Zuschauertribüne vom Gerichtssaal trennt, jemals hochgezogen wurde. Bald darauf wurden die Journalisten wieder nach draußen geleitet. „Die Probleme sind bisher noch nicht gelöst“, erklärte ein Gerichtssprecher, ohne weitere Einzelheiten zu nennen.

Laut irakischem Gesetz kann der Prozess auch ohne die Anwesenheit des Hauptangeklagten fortgesetzt werden. Doch der Vorsitzende Richter Risgar Mohammed Amin hatte in einer geschlossenen Sitzung noch versucht, Saddam Hussein und dessen Verteidiger davon zu überzeugen, weiter an der Verhandlung teilzunehmen. Unklar ist das Arrangement, das nun getroffen wurde, ohne dass der ehemalige Diktator persönlich im Gerichtssaal anwesend ist. Im Gespräch war die Möglichkeit, dass Saddam Hussein den Prozess am Bildschirm verfolgen und gegebenenfalls intervenieren kann.

Eine Woche vor den Parlamentswahlen findet das Verfahren gegen den Exdiktator in einer zunehmend angespannten innenpolitischen Lage statt. Die Regierung, geführt von den einstigen schiitischen Gegnern des Regimes von Saddam Hussein, ist daran interessiert zu zeigen, dass der ehemalige allmächtige Peiniger nun vor seinen Richtern steht. So sollen die eigenen Anhänger für die Wahlen mobilisiert werden. Die hauptsächlich aus den ehemals herrschenden Sunniten bestehende Guerilla versucht dagegen, mit neuen Anschlägen und Geiselnahmen die Lage zu destabilisieren.

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