DIE KLEINE WORTKUNDE

Joachim Gauck ist ein Wortkünstler, ja, ein regelrechter Wortakrobat! Und das muss man berücksichtigen, wenn man nun liest, dass er in einem Interview mit der Bild-Zeitung gesagt habe, er empfinde MITLEID mit Christian Wulff. Denn das hat er gar nicht gesagt.

Die Bild fragt in dem Interview, das aus Anlass von Gaucks erstem Amtsjahr geführt wurde: „Gegen Ihren Vorgänger Christian Wulff wird immer noch ermittelt. Tut er Ihnen manchmal leid?“ Gauck antwortet: „Zunächst einmal gehört ein ganz genaues Überprüfen und Hinterfragen von Politikern zu unserer politischen Kultur.“ Er sagt in staatstragendem Ton einen Gemeinplatz, wie es sich für einen Staatsmann gehört, der nicht antworten will.

Dann lenkt er ab. Und ein. Denn die Bild appelliert an seine Gefühle. Er sagt also, unter Benutzung einer Konjunktion: „Trotzdem bewegt mich das Schicksal von Christian Wulff und seiner Frau. Ich habe damals das junge Paar hier ins Schloss Bellevue einziehen sehen mit all ihren Hoffnungen, was sie vielleicht politisch bewegen könnten. Wenn ich dann heute sehe, was aus diesen Hoffnungen geworden ist, dann tut mir das menschlich leid.“ Das junge Paar ist ausgezogen aus Schloss Bellevue und auch kein Paar mehr. Und das tut ihm „menschlich leid“. Doch nur, „wenn ich dann heute sehe“.

Das Wort „menschlich“ ist auffällig, es tut Gauck also nicht politisch, staatsmännisch oder pragmatisch leid (wenn das die Sprache denn überhaupt zuließe). Das Selbstverständliche – Mitleid – wird eingeschränkt empfunden, obschon es uneingeschränkt herrschen sollte. Nur „menschlich“ ist mitzuleiden, obwohl doch alle ein Paar bedauern sollten, das derart an Status verliert, dass auch seine Liebe darüber zerbricht. Wenn Gauck, der Wortakrobat, das Menschliche einschränkend benutzt, wiewohl er doch im Ganzen auch ein Mensch ist, so gibt es für ihn noch einen zweiten Gauck, den unmenschlichen, den Präsidenten. Dieser äußerte sich bereits kühl im ersten Teil der Antwort, als er keine Stellung zu Wulff bezieht. Gauck findet Worte, er nimmt nicht Anteil. Das ist, was er gesagt hat. JÖRG SUNDERMEIER