ÜBERTRAGUNGSLIEBE
: Schwäbische Wand

Ich mag Schwaben. Aber das trau ich mich nicht zu sagen

Mein Analytiker ist eine weiße Wand. Reinste Projektionsfläche. Also fast. Er ist eine weiße Wand aus Schwaben. Das ist das Einzige, was ich über ihn weiß. Jedenfalls nehme ich da einen leichten Singsang wahr, und zwar immer, wenn er emotional wird. Sicher bin ich mir aber nicht. Am Ende ist er Badener oder Pfälzer. Trau mich aber auch nicht, ihn danach zu fragen. Er spräche dann sicher irgendetwas Sexuelles an oder konterte mit einer analytischen Gegenfrage: „Und warum möchten Sie das wissen?“

Möchte ich gar nicht. Oder bisher nicht. Jedenfalls nicht dringend. Aber neulich habe ich vergessen, die Kontext-Wochenzeitung zu bearbeiten, die der taz an jedem Wochenende beiliegt. Bis vor Kurzem nur in Süddeutschland. Jetzt auch in Berlin. Das war mir sehr peinlich. Wie kann das denn passieren, wenn es jeden Freitag gemacht werden muss? Es ist aber noch mal gut gegangen.

Als ich meinem Analytiker, nennen wir ihn M., davon erzählte, weil ich in letzter Zeit so schusselig war, hob er eine Augenbraue und sagte bedächtig: „Die Zeitung kommt ja aus Schwaben.“ Damit wollte er mir natürlich etwas allzu Offensichtliches sagen, aber vor allem: hat er sich verraten.

Ich mag Schwaben. Aber auch das trau ich mich nicht zu sagen – und mit dem Schwaben-Necken ist das so eine Sache geworden. Spätestens seit dem Spätzle-Anschlag auf das Kollwitzdenkmal liegen die Nerven blank, und ich bilde mir ein, M. zuckt jedes Mal zusammen, wenn ich irgendetwas erwähne, das mit Prenzlauer Berg, Maultaschen oder Häuserbauen zu tun hat. Ich selber lebe in Neukölln.

Natürlich stelle ich mir vor, dass er am Kollwitzplatz wohnt, das fantasiere ich mit allergrößter Übertragungsliebe und muss dabei kichern wie eine Zwölfjährige. Fantasien sind von therapeutischem Wert. Wenn man das durcharbeitet.

ANTONIA HERRSCHER