Berliner Szene: Wo die Krähen sind

Manchmal fühlt sich die Stadt an wie eine Disko um sieben Uhr morgens, wenn das Licht angeht.

Sie sitzen in Schwärmen auf kahlen Bäumen. Oder allein auf Zäunen. Bild: dpa

Wollt ihr wissen, wo die Nebelkrähen im Nebel hingehen? Wenn der Fernsehturm seinen Kugelkopf in die Wolken hängt. Wie ein versoffener Penner in einer Weddinger Eckkneipe, der sich in stinkenden Zigarrenqualm hüllt. Der Rauch hat die weißen Haare gelb gemacht und die Augen trüb. Wenn der Alexanderplatz so nass ist wie die dreckigen Bodenfliesen im Männerklo jener Kneipe. Wenn der Nieselregen von vorn kommt wie der stinkende Atem des gescheiterten Philosophen am Tresen, der nach dem nächsten Bier fragt. Wenn die ganze Stadt sich anfühlt wie eine Disko um sieben Uhr morgens, wenn das Licht angeht.

Seit einer Woche gab es keine Sonne mehr. Die Nebelkrähen haben sie mitgenommen. Jetzt sitzen sie da. Auf den Bäumen an der Rochstraße, direkt am Alex, wo die S-Bahn um die Kurve fährt. Die Rochstraße ist an dieser Stelle Einbahnstraße und nur für Anlieger frei, deswegen eignet sie sich gut zum Fahrradfahren. Es kommt mir immer so vor, als sei an diesem winzigen Punkt der Stadt die Zeit stehen geblieben. Vielleicht wegen der Plattenbauten links, wegen der Markthallen rechts. Ich kenne keinen Ort in Berlin, der auf so geringem Raum soviel DDR-Trostlosigkeit versammelt. Fast erwartet man ein Honeckerbild an einer Fassade.

Die Straße ist immer leer abends nach sechs, wenn ich da lang fahre. Höchstens mal ein verirrtes Touristenauto, dessen Fahrer clever sein wollte, das Anliegerschild umgehen und nicht mit der Absperrung in der Mitte der Straße gerechnet hat, durch die nur Fahrräder durchpassen und durch die die Rochstraße zur Autofalle wird.

Die Krähen sitzen nur da. Sie bewegen sich nicht. Sie krähen nicht. Sitzen nur da wie von Hitchcock bestellt und nicht abgeholt. In riesigen Schwärmen in kahlen Bäumen. Ich glaube, sie haben die Sonne gestohlen.

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Schriftstellerin, zuletzt "Hätt' ich ein Kind" bei Ullstein, Kolumnen montags bei Radio Eins.

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