Im Schwarzen Café
: Tauchen und Segeln

Hat mir meine Mutter immer erzählt

„Am liebsten zeichne ich Segelschiffe“, sagt sie. Ich sitze im Schwarzen Café, habe gerade einen Moment zu lange zum Nachbartisch geschaut, und schon hält mir die Frau ein Bild unter die Nase. „Mein Vater hat immer zu mir gesagt Ulla – so wie du aussiehst, lernst du nie einen Mann kennen. Mit deinen Ohren.“

Unauffällig mustere ich sie. „So schlimm finde ich Ihre Ohren gar nicht.“ „Na ja, jetzt schwindeln Sie aber. Wussten Sie eigentlich, dass die besten Segler der Menschheit Leute mit großen Ohren waren?“, sagt sie und fügt hinzu: „Hat mir meine Mutter immer erzählt. Und jeden Morgen in der Schule habe ich dann Segelschiffe gezeichnet. Und Sie, was machen Sie so, wenn Sie nicht hier sitzen und warten, bis das Jahr zu Ende geht?“ „Ich, nichts Besonderes.“ „Und haben Sie auch Probleme?“ „Sie meinen? Wie Sie mit Ihren Ohren?“ „Ja, genau – Plattfüße, Schluckauf, Hämorriden.“ Ich zögere. „Schweißfüße, Haarausfall, Schuppenflechte?“

Na gut, denke ich, auch wenn du Ulla gerade erst kennengelernt hast, ihr kann man so was ruhig erzählen. Nach einigen Augenblicken gebe ich mir also einen Ruck und sage: „Ich habe Höhenangst.“ „Na ja, das haben viele.“ „Ja, aber bei mir ist das anders. Ich kann noch nicht mal auf einem Tisch stehen, ohne weiche Knie zu kriegen.“ „Oh“, entfährt es ihr, „noch nicht mal auf einem Tisch?“ „Nein.“ „Auch nicht auf einem Stuhl oder Schemelchen?“ „In der Regel nicht.“ „Na damit sind Sie wirklich nicht zu beneiden“, blickt sie mich mitfühlend an. „Aber Sitzen, das ganz normale Sitzen, das geht schon, oder?“ Ich nicke. „Gut, sonst hätten Sie sich gerne bei mir unterhaken können. Nur so, zur Sicherheit. Wussten Sie eigentlich“, grinst sie, „dass die besten Taucher der Menschheit Leute mit Höhenangst waren?“ Dann nimmt sie ihren Stift und fängt eine neue Zeichnung an. JOCHEN WEEBER