Woanders tanzen

In seinem Dokumentarfilm „12 Tangos – Adios Buenos Aires“ erzählt Arne Birkenstock von der argentinischen Krise, vom Tanz und von der Migration

VON DIETRICH KUHLBRODT

Der Tango ist was zum Abtauchen in der Krise. Was aber auch geht, ist, eine Stadt wie Buenos Aires zu verlassen, wo nichts mehr geht. Der Dokumentarfilm des deutschen Tangospezialisten Arne Birkenstock begleitet Emigrantinnen wie die 20-jährige Tangotänzerin Marcela, die dabei sind, der ruinierten Stadt tschüs zu sagen. Woanders Geld verdienen? In Europa! Dort ist jetzt Tango angesagt. Marcela hofft in Frankreich auf lukrativen Tangounterricht. Sie macht die Reise ihrer europäischen Großeltern rückgängig, die Anfang der Fünfzigerjahre in Buenos Aires hoffnungsvolle Immigranten gewesen waren, wirtschaftlicher Not und sozialer Ausgrenzung trotzend.

Vor drei Jahren also der Globalisierungs-GAU in Argentinien. Arbeit weg. Geld weg. Was bleibt, ist eine tolle Droge. Für die ganz Alten und für die ganz Jungen. Der Tango. In der Catedral, dem 200 Jahre alten Kornspeicher, kommen die Generationen zusammen. Die Alten erinnern sich, wie die Jungs unter sich Tango geübt und getanzt haben, bevor sie sich in den Ballsaal trauten. Die junge Marcela ist stolz darauf, dass der hochbetagte Tangolehrer ihr auch die Tanzschritte der Männer beigebracht hat. Im Catedral-Club sind die fünf Punkfreaks von Las Muñecas zu Haus. Gardel-Lieder auf E-Gitarren und Polittango zur Lage: „Heute ertrinken unsere Träume im Weltwährungsfonds“. Kostümiert sind sie wie Vampir-Banker. In der Stadt sind Großbanken mit Graffiti besprüht: „Treten Sie ein. Wir betrügen Sie.“ Und dann tut der Film noch ein Statement dazu: „Sich ins Ausland zu verdrücken, wäre das Dümmste“, während wir im Off hören, dass Hunderttausende auswandern.

Der Film platziert den Tango in eine von den Banken verheerte Stadt. Der Crash vom Dezember 2001 nahm über Nacht jede Perspektive zum Weiterleben, Job und Wohnung sowieso. Arne Birkenstock, versierter TV-Dokumentator, montiert unaufgeregt Statements, Musik, Tanz, alte Fotos, neue Demos und privates Familienleben zusammen. Das letzte Essen, dann fährt Mama nach Europa. Putzhilfe ist zwar illegal, aber bringt Geld. Die vier Kinder bleiben zurück. Widersprüche bleiben stehen. Also danken wir einem Autor, der sich mit Kommentaren zurückhält. Was wir sehen, drängt sich nicht vor. Die Bilder sind anständig. Und was den Tango betrifft, setzt der Film nicht eins drauf. Das wollen wir festhalten. Denn wenn der Tango die letzte Ecke sein soll, in der anständiges Leben noch möglich ist, liegt Filmpathos nah. Aber: nix davon. Und dann passiert es: Freiheit für den Tango. Für zwölf Tangos in 85 Minuten. Danke, Arne Birkenstock, danke. Denn wir kennen doch alle diese grauenhaften Musikdokumentationen, in denen Songs nur kurz angespielt und dann mit Statement-Fragmenten verhackstückt werden.

Luis Borda, der Botschafter des Tango Nuevo, hat für den Film die Großen des Tangos, alte neben junge, zu einem All-Star-Orchester formiert. Wir sehen die letzten Aufnahmen vom legendären Bandoneon-Spieler José Libertalla und des ebenso großen Tango-Sängers Jorge Sobral. Beide starben wenige Wochen nach Drehschluss. Maria de la Fuente, 92 Jahre alt, singt zusammen mit Lidia Borda, die sich des Titels „beste Tangosängerin der Gegenwart“ erfreut. Keine Ahnung, wie es Ihnen geht – mir lief es kalt den Rücken runter. Und da „12 Tangos“ kein Nostalgiefilm ist, ganz im Gegenteil, holen uns Neukompositionen wie „Ironía del Salón“ und „Corralito“ auf den Boden der Catedral zurück.

„12 Tangos – Adios Buenos Aires“. Regie: Arne Birkenstock, Dokumentarfilm, Deutschland 2004, 90 Min.