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OHR AM NEBENTISCHGar nicht verrückt

Sein Blick durch die blank geputzte Brille hatte etwas Starres

Vor zwei Jahren erschien mein Jugendroman „Der Klassenfeind und ich“ auf Japanisch. Meine Freude darüber war groß, zumal die Aufmachung viel schöner war als die deutsche. Auf dem Cover ist ein Schwarz-Weiß-Foto aus dem Jahr 1988 von mir in einem Jeansminirock. Meine Hoffnung, von einem der Goethe-Institute in Japan eingeladen zu werden, machte das Reaktorunglück wenige Tage nach Erscheinen der japanischen Ausgabe zunichte. In dem Vorwort hatte ich ausgerechnet über den Zivilschutzunterricht an den Schulen in der DDR geschrieben und wie ich gelernt hatte, dass nasse Sandsäcke Schutz vor Atombomben bieten.

Nun habe ich in Berlin die Japanerin getroffen, die das Buch übersetzt hat, eine sehr kleine, sehr höfliche, sehr bescheidene Frau so Mitte 50. Wir gingen in das Altberliner Lokal Gambrinus essen. Der Abstand zu den Tischen rechts und links von uns war so kurz, dass der Mann, der rechts von uns aß – Mitte 40, mit Anzug, Schlips und Kragen –, mit einem Ohr bei uns saß. „Meine“ Übersetzerin hatte ein großes Bedürfnis, immer wieder ihrer Freude über unser Treffen Ausdruck zu verleihen. Lächelnd legte sie eine japanische Ausgabe meines Buches auf den Tisch und bat mich, es zu signieren.

Als wir nach Bratwurst und Sauerkraut gehen wollten, sprach mich das Ohr vom Nebentisch an. „Ich habe mit Interesse zugehört“, sagte der Mann mit ausgesuchter Höflichkeit. Sein Blick durch die blank geputzte Brille hatte etwas Starres, ein bisschen Irres. Er stellte sich als Numismatiker und Historiker vor und bedauerte, dass sein Sohn damit nichts am Hut habe. Dann erwähnte er einen Unfall und irgendwas mit dem Kopf. Aha, dachte ich, deshalb also. Er nahm das Buch vom Tisch, betrachtete das alte Foto, blickte mich an und sagte: „Sie haben nichts an Attraktivität eingebüßt.“ Dieser Mann konnte unmöglich verrückt sein.

BARBARA BOLLWAHN

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