Am unteren Rand ein rotes Lodern

ESSAYFILM Er findet Bilder, keine Begriffe: Der Berliner Regisseur Thomas Heise hat seinen neuen Film „Gegenwart“ in einem Krematorium gedreht und öffnet damit einen ganz eigenen Assoziationsraum

Den Anfang machen Bilder der Kälte. Ein Schneetreiben mit unscharf gefilmten Flocken, es sieht fast aus wie eine pointillistische Etüde in Weiß und Grau. Danach ein Stoppelfeld, schneebedeckt, schmutzig-strohfarben ragen die Getreidehalme aus dem Weiß auf. Danach eine Wand von Tannen, oben kein Horizont, unten keine Wiese, rechts und links keine Lichtung, die Äste tragen schwer am Schnee. Eine Krähe schreit.

Damit setzt Thomas Heises neuer Film „Gegenwart“ ein, der weniger eine Dokumentation über ein Krematorium als eine essayistische Annäherung an ein solches ist. Der Schnee, die Krähe, das abgeerntete Feld und der düstere, undurchdringliche Tannenwald rufen unweigerlich Assoziation von Ende und Unheil auf, allegorisch ist der Winter dem Tod verbunden, um den es in einem Krematorium zwangsläufig und auf einer sehr konkreten Ebene geht, und zugleich kann man diese Kältebilder als Kontrastmittel zu den Hitzebildern begreifen, von denen es in „Gegenwart“ einige gibt. Nicht fehlen etwa darf die Einstellung auf den Sarg, der auf einer Schiene in die Brennkammer gleitet, sich in der Hitze selbst entzündet, während sich die Schließtür der Kammer langsam senkt und damit den Blick auf das Innere nach und nach versperrt, bis nur mehr am unteren Rand das rote Lodern zu sehen ist und irgendwann auch das nicht mehr.

Starker Gegensatz

Ein starker Gegensatz tut sich zudem zwischen den Winterbildern und der Koda des Films auf, für die Heise das Gelände des Krematoriums verlässt. Er dreht während einer Karnevalssitzung, von der man im Abspann erfährt, dass sie vom Berufsverband der Bestatter ausgerichtet wird. Es sind Einstellungen auf Reihen roter Stiefel, in die Luft gerissene Beine, feixende, schwitzende Gesichter, dazu extradiegetische Musik: „Wenn im sonnigen Herbste die Traube schwillt“, eine Ode auf den Rhein aus dem Jahr 1902.

Zwischen winterlicher Strenge und karnevaleskem Überschuss liegen etwa sechzig Minuten, in denen Thomas Heise und der Kameramann Robert Nickolaus das Innere des Krematoriums erkunden, ohne es zu erklären. „Gegenwart“ verschafft zwar Zutritt ins Reich der Feuerbestatter, doch man bleibt darin ein Fremder, denn so wenig gesprochen wird, so wenig wird erläutert. Wie die komplexe, mehrteilige, über Erdgeschoss und Keller verteilte Ofenanlage funktioniert, wer hier arbeitet und wer welche Funktion innehat – all das bleibt ein wenig schemenhaft.

Je mehr Filme Thomas Heise dreht, umso deutlicher tritt zutage, wie wenig ihm daran liegt, etwas – eine Jugendkultur, einen Funktionsablauf, eine geschichtliche Begebenheit – zu erklären, aufzuschlüsseln und dadurch der Einordnung anheimzustellen. Heise macht seinen Zuschauern die Welt nicht entzifferbar; er bewegt sich dort, wo man Bilder, aber noch keine Begriffe findet, wo man hinguckt und doch nicht umhinkommt zu bemerken, dass es um die Lesbarkeit des Gesehenen heikel bestellt ist.

Hinzu tritt ein Assoziationsraum, der, gerade weil Heise ihn so lapidar eröffnet, perplex macht. Ins Auge springt zum Beispiel die Glatze eines der Angestellten, es ist ein junger Mann, und er trägt ein Polo-Shirt, das von Thor Steinar stammen könnte. Er macht sich im Inneren eines Ofens zu schaffen, in einer klaustrophobischen Kammer, deren Wände und Streben kaum mehr Platz lassen, als dieser Mann im Umfang misst. Manchmal guckt die Kamera von oben auf seinen unbehaarten Kopf, und dieser direkte, fast dreiste Blick auf die Glatze lässt gar keine andere Assoziation zu, als an einen Skinhead zu denken, an die Alltäglichkeit rechter Subkultur, die Heise mit „Stau“ (1992) und die auf „Stau“ folgenden Filme erkundet hat. In einer anderen Einstellung ist eine mehrfarbige Skizze der Ofenanlage zu sehen, zwischen dem Gewebefilter und dem Rauchgaskühler ist ein Apparat eingetragen, über dem der Schriftzug „Zyklon“ steht. Dass man, sobald es in Deutschland um Krematorien geht, an die nationalsozialistische Vernichtungspolitik denkt, ist fast ein Reflex. Heises Film kitzelt ihn hervor, indem er die Schautafel ins Bild rückt. Er tut dies aber mit einer gewissen Nonchalance, so dass er es auch in diesem Fall dem Zuschauer überlässt, was der aus der fragmentarischen Information machen möchte. Ob er sich dem vom Wort „Zyklon“ hervorgerufenen Vergangenheitsschauder anheimgibt oder sich dagegen verwahrt, ist seine Entscheidung. CRISTINA NORD

■ „Gegenwart“, Regie: Thomas Heise. Dokumentarfilm. Deutschland 2012, 65 Min. ■ Die Rezension ist die gekürzte Fassung eines Buchbeitrags für „Über Thomas Heise“ von Matthias Dell und Simon Rothöhler (Verlag Vorwerk 8)