Der Weg in eine andere Türkei

SZENARIEN Für einen anhaltenden Frieden mit den Kurden muss der kemalistische türkische Nationalstaat grundsätzlich umgebaut werden

BERLIN taz | Kommt jetzt der Frieden zwischen Kurden und Türken? Die gestern während der Newroz-Feiern in Diyarbakir verlesene Erklärung des inhaftierten PKK-Vorsitzenden Abdullah Öcalan ist zweifellos eine Zäsur im 30-jährigen Krieg im kurdischen Teil der Türkei. Denn Öcalan spricht jetzt – anders als bei vorangegangenen Waffenstillständen – vom Ende des bewaffneten Kampfes.

Die Kämpfer der PKK sollen nach Aufforderung ihres inhaftierten Anführers nicht nur die Waffen schweigen lassen, sondern die Türkei verlassen, das heißt sich in den kurdisch kontrollierten Nordirak zurückziehen. Das hat es zwar schon einmal gegeben, ein Jahr nachdem Öcalan 1999 verhaftet worden war. Doch als Öcalan damals seine Kämpfer zum Rückzug aufgefordert hatte, setzte die Armee nach und tötete fast 500 PKK-Militante. Im Unterschied dazu hat der türkische Premier Tayyip Erdogan jetzt der PKK garantiert, dass die Armee die Kämpfer friedlich ziehen lassen wird.

Beginnt die PKK den Rückzug, ist der türkische Regierungschef am Zug. In Gesprächen mit Öcalan, die Geheimdienstchef Hakan Fidan im Auftrag Erdogans führte, war den Kurden signalisiert worden, dass durch eine Änderung der bisherigen Antiterrorgesetzgebung dann ein großer Teil inhaftierter kurdischer Aktivisten freigelassen wird. Vor allem aber muss Erdogan die türkische Bevölkerung davon überzeugen, dass es trotz der großen Opfer im Kampf gegen den „Terrorismus“ jetzt richtig ist, mit den „Terroristen“ von gestern politisch zu verhandeln. Das ist mit der schwierigste Teil des ganzen Prozesses, denn 30 Jahre lang hat man den Leuten eingehämmert, dass die PKK nur mit polizeilichen und militärischen Mitteln zu besiegen sei. Öcalan schlägt deshalb vor, eine Gruppe „weiser Männer und Frauen“ zusammenzustellen, die einen Versöhnungsprozess nach dem Vorbild der südafrikanischen Wahrheitskommissionen einleiten sollen.

Außerdem fordert Öcalan, dass im Parlament eine Kommission gebildet wird, die parteiübergreifend darüber redet, wie diskriminierende Gesetze verändert oder abgeschafft werden können. Einmünden soll der gesamte Friedensprozess dann in der Verabschiedung einer neuen Verfassung, die einen Staatsbürgerschaftsbegriff schaffen soll, der auch die ethnischen Minderheiten einschließt und andere Sprachen als Türkisch auch in Schule und Verwaltung zulässt. Noch ist es so, dass kurdische Bürgermeister für zweisprachige Flugblätter ins Gefängnis gesteckt werden können.

Einer der Gründe, warum Erdogan die Formulierung einer neuen Verfassung vorantreibt, ist sein Wunsch, dass parlamentarische System der Türkei stärker in Richtung einer Präsidialverfassung zu verschieben. 2014 wird in der Türkei ein neues Staatsoberhaupt gewählt, und nach drei Legislaturperioden als Ministerpräsident strebt Erdogan dann dieses Amt an. Dafür will er den Präsidenten mit umfassenden Vollmachten ausstatten – was die anderen Parteien bislang aber ablehnen. Der Deal könnte nun sein, dass Erdogan die Anerkennung der Kurden in der Verfassung durchsetzt und die im Parlament vertretene kurdische BDP im Gegenzug ihm zu der nötigen Mehrheit für ein Präsidialsystem verhilft.

Bleibt die Frage, was mit den Kämpfern der PKK passiert. Für den größeren Teil, vor allem diejenigen, gegen die kein Strafverfahren läuft, wird es wohl eine Amnestie geben. Die Führer der Guerilla sollen dagegen Asyl im Ausland, möglicherweise in Skandinavien, erhalten. Am einfachsten für sie wäre es aber, im Nordirak zu bleiben und sich dort politisch zu engagieren.

Schließlich setzen Öcalan und viele andere Kurden darauf, dass mit der De-facto-Unabhängigkeit der Kurden im Irak und der sich abzeichnenden Autonomie der Kurden in Syrien ein insgesamt teilautonomes Gebilde entsteht, das an die Zeit des späten Osmanischen Reiches erinnert, „bevor die Nationalstaaten die Völker aufeinanderhetzten“, wie Öcalan gestern sagte.

Da ist er sich dann mit Erdogan einig, der ja auch die alte kemalistische Republik überwinden will. JÜRGEN GOTTSCHLICH