Nachruf Jacques Le Goff: Der Weggefährte des Mittelalters
Der französische Historiker war erst Marxist, dann Antistalinist. Vor allem aber hat er den Alltag der Menschen im Mittelalter erforscht.
Während seines langen Historikerlebens hat der am Dienstag im Alter von 90 Jahren in Paris verstorbene Jacques Le Goff ein Ziel vor Augen gehabt: Der Geschichte und vor allem der langen Epoche des Mittelalters ein menschliches Antlitz zu geben.
Nicht Daten von Kreuzzügen und Schlachten, Namen von Königen und Päpsten haben ihn fasziniert, sondern das Leben der Menschen, ihr Alltag mit Lachen und Weinen, ihre „Mentalitäten“, Gesten, Bräuche, Symbole und Träume. Ihn interessierte das Sinnliche und Leibliche ebenso sehr wie der Handel und die Entstehung von Banken und Börsen. Dies belegen unter vielen anderen Werken seine Bücher „Die Geschichte des Körpers im Mittelalter“ oder „Geld im Mittelalter“ sowie „Wucherzins und Höllenqualen. Ökonomie und Religion im Mittelalter“.
Le Goff war Schüler der berühmten Historiker der Annales-Schule Fernand Braudel und Marc Bloch und Herausgeber der Zeitschrift „Annales“. Er lehrte in Rom, Lille und Paris.
1924 kam er in Toulon als Sohn einer frommen Katholikin und eines antiklerikalen Mittelschullehrers aus der Bretagne auf die Welt. Die linke Volksfront (1936-38) mit ihren Sozialreformen und danach Frankreichs Kapitulation vor Hitler 1940 haben den jungen Le Goff politisiert. Er betrachtete die Kollaboration des Vichy-Regimes als „Schande“. In dieser Periode entdeckte er als Schüler bei der Lektüre der Ivanhoe-Romane von Walter Scott seine Faszination für das Mittelalter, das seinen Worten zufolge zu seinem „Weggefährten“ fürs Leben wurde.
Als er im besetzten Frankreich wie viele andere junge Männer für den Obligatorischen Arbeitsdienst nach Deutschland geschickt werden sollte, ging er in den Untergrund, um sich der Widerstandsbewegung anzuschließen. Nach dem Zweiten Weltkrieg schloss er sich der marxistischen Linkspartei PSU an, als Augenzeuge der kommunistischen Machtübernahme in Prag 1948 wurde er ein entschiedener Antistalinist.
Der französische Präsident François Hollande würdigte Le Goff als „engagierten Intellektuellen, überzeugten Europäer und Kämpfer für soziale Gerechtigkeit“.
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