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Im Verlies: Das freie Münsteraner Theater „Freuynde und Gaesdte“ bearbeitet die Reemtsma-Entführung

Theater als inszenierter Tatort-Termin. Es beginnt vor einer Halle des Münsteraner Güterbahnhofs. Das Publikum wartet auf das Entführungsopfer, gespielt von Zeha Schröder. Gemeinsam geht es durch die dunkle, kühle Gleis-Halle zu einem unterirdischen Verlies. Es ist eng, kalt und schmutzig hier, die Betondecke hängt tief. Das Opfer identifiziert den Raum als jenen, in dem es 33 Tage lang angekettet war. Eine düstere Erinnerung.

Seit fast zehn Jahren inszeniert die freie Münsteraner Theatergruppe „Freuynde + Gaesdte“ an ungewöhnlichen, abwegigen Orten. Mit „33 Tage. Chronik einer Entführung“ knüpfen die Theatermacher an ihre Tradition dokumentarischer Stücke an. So inszenierten sie schon die Schauergeschichte des „Totmacher“ genannten Männermörders Haarmann aus Hannover. Oder bearbeiteten den als „Unabomber“ bekannt gewordenen Brief-Mörder Kaczynski. Illustre Gestalten allesamt, auf die nun Jan Philipp Reemtsma folgt, Zigaretten-Erbe, Literaturwissenschaftler und Kunst-Mäzen, der im März 1996 entführt und gegen Lösegeld wieder freigelassen wurde.

Dessen Erfahrungsbericht „Im Keller“, der 1997 in Buchform erschien, bildet die Grundlage: Dabei wird diese präzise Analyse der eigenen Traumatisierung, die Reflexion der Zerrissenheit zwischen Todesangst, Rachephantasien und Hoffnung auf Tröstung durch die Entführer als paradigmatischer Fall genommen und als Stück bearbeitet. Regisseur Jan-Christoph Tonigs, der auch in kurzen Szenen als Polizist und Entführer auftaucht, verzichtet zwar auf Namensnennungen, Protagonist Reemtsma ist dennoch zu erkennen: durch die teure Kleidung des Opfers, durch Vollbart, zurück gekämmtes Haar, Brille und die charakteristische Figur des Intellektuellen, der auch Millionenerbe ist.

Der Bericht des Opfers reflektiert die brutal erzwungene Entfernung vom bisherigen Leben, das Verlorensein im dunklen Verlies, die Trennung von Körper und Ich als reale Erfahrung. Das Ich spielt keine Rolle mehr, der Körper ist zum Tauschobjekt degradiert. Wert: 30 Millionen Mark. Erzählt wird in Rückblenden. Und was auf der normalen Theater-Bühne schnell konventionell erscheinen könnte, ist im Verlies originell. Wenn plötzlich das Licht ausgeht, ist die Dunkelheit tatsächlich ebenso „dick“, wie vom Opfer geschildert. Es entsteht ein Spannungsverhältnis aus Authentizität und Distanz, das in Schröders Spiel eine ungeheure Intensität entfaltet.

MARCUS TERMEER

Heute und morgen, 20 UhrInfos + Karten: www.f-und-g.de