Allein mitten im Unglück

„Die Verstörung“, das neue Stück von Falk Richter an der Schaubühne, ist eine traurige und sehr kalte Schönheit – übertreibt es aber ein bisschen mit der Menge der katastrophischen Spannungskurven

VON KATRIN BETTINA MÜLLER

Sätze machen die Runde. Sie werden weitergegeben von Schauspieler zu Schauspieler, von Szene zu Szene und klingen in jeder Wiederholung noch ein bisschen trauriger. „Ich will doch nur, dass du dich zu mir legst. Das bedeutet auch nichts.“ Das sagt ein Mann erst zu seinem Liebhaber, der ihn verlassen will, später zu einem Partner für eine Nacht, der schon gefesselt vor ihm liegt. Das sagt ein Schauspieler zu seinen Kollegen auf der Probe, und man weiß nicht: Gehört das jetzt in das Stück, das wir sehen, oder auf einer zweiten Ebene in das Stück, das die Schauspieler im Stück am Heiligen Abend proben? Das sagt eine junge Frau zum kleinen Sohn ihres Freundes, der beide anscheinend vergessen hat, und bald darauf das verlassene Kind zu einer alten Frau. Aber mit jeder neuen Traurigkeit, die sich auf die bekannten Sätze legt, klingen sie auch ein wenig zynischer. Als wüssten die Sprechenden längst, dass sie nur noch etwas nachahmen, was nicht mehr in ihnen ist.

Einsame Menschen. „Die Verstörung“, das neue Stück, das Falk Richter für die Weihnachtszeit an der Schaubühne geschrieben und inszeniert hat, sammelt sie wieder obsessiv. Schon in „Electronic City“ und „Unter Eis“, die der Autor und Regisseur in der letzten Spielzeit herausbrachte, lagen in den Skizzen der verloren gegangenen Figuren oft die stärksten Momente. Aber während dort die ökonomischen und politischen Apparate, die für die Orientierungslosigkeit und den Identitätsverlust der Personen verantwortlich waren, als Motor im Mittelpunkt standen, wendet sich „Die Verstörung“ ganz dem Privatleben zu. Es zieht den Blickwinkel enger und lässt ihn dafür über eine Vielzahl verstreuter Schauplätze schweifen.

Wir surfen von Beziehung zu Beziehung, von Couch zu Couch, auf der mal professionelle Berater, mal neurotische Frauen und mal sadistische Männer ihr Handwerk der Zerstörung verrichten. Es gibt Abstecher in die Einsamkeit im Altersheim und zu einem Großelternpaar, das seine ungeliebten Enkel zu Weihnachten ins Haus geliefert bekommt – eine auf vereiste Glasflächen projizierte Filmszene, die etwas vom Schema abweicht und gerade darum am verstörendsten ist. Denn das alte Paar liebt sich und streitet als einziges nicht. Schön? Nein, gar nicht schön, denn ihre Liebe funktioniert wie ein Bollwerk, das alles ausschließt, was sie nicht mehr verstehen: ihre Kinder ein wenig, deren Freunde etwas mehr und vor allem wieder deren Kinder.

Nun gleicht diese Konstruktion der privaten Katastrophen, die parallel nebeneinander geschnitten auf einen Kulminationspunkt zutreiben, ein wenig dem Modell von Vorabendserien, Folge XX. Tatsächlich erinnert die Aufführung auch eine Weile daran, bis Falk Richter seinen speziellen Bühnensound gefunden hat: ein surreales Verwischen der fragmentierten Ausschnitte, ein metaphorisches Überhöhen der Stimmung der Angst, ein Weiterschreiben der Liebesunfähigkeit hin auf das Versagen des Prinzips Mensch.

Es sind diesmal Bilder der Kälte und des Erfrierens, die diese Ausweitung ins Allgemeine leisten. Das beginnt bei den vereisten Scheiben und blau leuchtenden Eisschollen im Bühnenbild. Das setzt sich fort im zugespielten Ton von Autounfällen; das wird routiniert verstärkt im Spiel zweier zugeschalteter Radiomoderatoren, die über der Zahl der Unfalltoten und Erfrorenen allein in dieser einen Nacht die Nerven verlieren. Einen Nebenschauplatz bildet dabei die Probebühne der Schauspieler, eisig kalt, weil Heizungen jetzt nicht mehr zur Grundausstattung der Theater gehören. Damit skizziert das Stück auch die Stimmungslage an der Schaubühne, die seit der Absenkung ihres Etats nicht mehr weiß, wie sie ihr teures Haus noch halten kann.

Durch den schnellen Schnitt der Szenen und die Überlappungen der Schauplätze erhält die Inszenierung einen Sog, der einen wie eine wachsende Welle dem Ende zuträgt. Diese Dynamik ist gelungen. Allein sie kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass dieses Kaleidoskop eines albtraumhaften Heiligen Abends auch ganz schön kokettiert mit dem Horror und den Effekten der Katastrophe, um seine Spannung daraus zu beziehen. Falk Richter ist gut im Anheizen der Konflikte, im Ansteuern des Absurden – aber immer, wenn man nicht mehr weiß, wie es weitergehen könnte, kommt einfach der Schnitt und der nächste Schauplatz. So werden die Figuren nicht zuletzt von ihrem Autor und Regisseur stets mitten im Unglück allein gelassen.

„Die Verstörung“, Schaubühne am Lehniner Platz, 12., 13., 22., 26., 27. und 31. Dezember, 20 Uhr