Der Zehner mit dem Wumms

Vertonte Poesie zwischen Pop, Bar, Brachialität und Improvisation: Nicolai Thärichens Tentett ist dabei, zum aufregendsten Berliner Jazz-Ensemble von heute zu werden

Der Verdacht liegt nahe: Hat Nicolai Thärichen sein Tentett mit der Vorgabe zusammengestellt, einen hübschen Stabreim zu ermöglichen? Nein, auf keinen Fall sagt der Namensgeber und Vorsteher des aktuell aufregendsten und widersprüchlichsten Jazz-Ensembles der Hauptstadt: „Die Idee mit der Alliteration kam erst, als ich fertig war und zusammen gezählt habe.“ Der Grund, warum Thärichens Tentett so besetzt ist, wie es nun mal besetzt ist, liegt allein darin, dass diese zehn Mann problemlos „zwischen der Intimität eines Duos und der Brachialität einer Big Band hin und her können.“

Auf „Grateful“, seinem neuen und dritten Album, demonstriert Thärichens Tentett diese Bandbreite. Und mehr. Denn die zehn Herren grooven verdächtig funkig für ein Ensemble mit einem solch biederen Namen. Geschmackvolle Barbeschallung gelingt ihnen ebenso selbstverständlich wie selbstvergessenes Improvisieren. Selbst Pop ist ihnen nicht fremd. Und dann singt diese Stimme, von der man nicht weiß, ob sie von einer Frau stammt oder von einem Mann, auch noch vom Masturbieren.

Das ist es, was Thärichens Tentett schlussendlich einen exponierten Platz in der Jazzwelt verschafft: Während andere bedeutungs- bis inhaltslose Texte zerknödeln, werden hier Gedichte renommierter Poeten vertont, manche mit recht deftigem Inhalt. Was zur Frage führt: Ist das noch Jazz? Sicher, antwortet Nicolai Thärichen, allerdings „geht die Musik in viele Richtungen, der rote Faden sind die Texte“.

Die stammen auf „Grateful“ in neun von zwölf Fällen aus dem Oeuvre des Psychiaters und Schriftstellers Ronald D. Laing. Thärichens Interesse gilt dessen so lakonischen wie handfesten Gedichten, „weil sie bei allen Abgründen eine Leichtigkeit und Durchlässigkeit behalten, die Musik kommentieren kann“.

Gleiches gilt für Zeilen von Lord Byron, Dorothy Parker oder George Bernhard Shaw, die Thärichen zuvor bearbeitet hat; Versuche mit deutschen Dichtern, so dem von Thärichen sehr verehrten Gottfried Benn oder Else Lasker-Schüler, scheiterten dagegen an der Schwere der Worte, die zu wenig Raum für Töne ließ. Oder, wie im Falle eines Gedichts von James Joyce, ganz profan an der Freigabe durch die Erben.

Gesungen werden die Texte von Michael Schiefel. Der hat mit seiner Stimme, die problemlos zwischen Fräuleinwunder und ältlichem Verführer wechseln kann, als Vokalist bei Jazz Indeed und als Solist mittlerweile Starstatus in der deutschen Jazzszene erreicht. Früher traten Pianist Thärichen und Sänger Schiefel als Duo auf und legten so die Keimzelle für das Tentett, bei dem nun eine Allstar-Auswahl des jungen Berliner Jazz spielt. Die entwickelt auf der Bühne etwas, das Thärichen „Wumms“ nennt: Man überzeugt nicht nur mit Handwerk, sondern übermannt das Publikum bisweilen mit roher Kraft, ein im Jazz noch immer eher unübliches Verfahren. Trotzdem wird das Tentett seit seiner Gründung 1999 von der Fachpresse gelobt und hat sich langsam in die höheren Etagen des Festivalbetriebs hoch gespielt. Für den 35-jährigen Leiter aber bleibt das Unternehmen Liebhaberei. Der Erfolg relativiert sich, wenn die eh nicht üppigen Festivalgagen durch zehn geteilt werden müssen. Headliner-Tourneen sind aufgrund des organisatorischen und finanziellen Aufwands von vornherein ausgeschlossen. Aber darauf, seine Vision abzuspecken und beispielsweise als Quartett auf die Bühne zu bringen, will sich Thärichen auf keinen Fall einlassen: „Auch wenn es pathetisch klingt: Das ist halt die Band, für die ich lebe und keine Kompromisse mache. Es war klar, dass da so schnell kein Geld fließen würde.“

Weil der Mensch aber von etwas leben muss, finanziert Thärichen seine „Wunschbesetzung“ als Dozent oder Auftragsmusiker. Die Arbeit als Lehrbeauftragter an der Hochschule für Musik Hanns Eisler, als Betreuer des Berliner Jugend-Jazzorchesters oder als musikalischer Leiter bei der Aufführung „Glückliche Reise“ im Maxim-Gorki-Theater sind „finanzielle Konstante“. Trotzdem träumt Nicolai Thärichen bisweilen davon, sein Tentett möge nicht nur ihm und seinen Musikern das Gefühl geben, „Teil zu sein von etwas wirklich Gutem“. Er hofft auf größere Resonanz beim Publikum und einen Status wie Mathias Rüegg mit seinem Vienna Art Orchestra. „Gut, das hat bei denen auch 25 Jahre gedauert“, muss er anerkennen, und es klingt nur ein klein wenig resigniert. „Aber jetzt kann Rüegg seinen Musikern Gagen zahlen und in Tokio bekommt jeder ein Einzelzimmer.“ Aber was ist ein Einzelzimmer in Tokio schon gegen so einen schönen Stabreim.

THOMAS WINKLER

Thärichens Tentett: „Grateful“ (Minor Music/ankustik)