Die kalte Heimat

Zwischen Revisionismus, wachsendem Mitgefühl und medialer Aufbereitung: Deutsche auf der Flucht in den Zeiten des Nachkriegs sind Mittelpunkt einer Ausstellung im Bonner Haus der Geschichte

VON JAN FEDDERSEN

Erika Steinbach ahnte schon am vorigen Wochenende, worin die Gefahr dieser Ausstellung liegt: dass sie ihre höchst eigenen Pläne nur noch als Ausbund geschichtszänkischen Haders erscheinen lassen. Ihr Projekt ist ja seit langem klar umrissen: In Berlin möge ein Zentrum für Vertreibungen entstehen – nicht zufällig atmosphärisch und nie explizit auf der Diskursebene altkonservativer Vergangenheitsdeutungen angesiedelt. Die Juden haben nun ihr Stelenfeld bekommen – nun muss über das Leid der Deutschen während und nach dem Zweiten Weltkrieg gesprochen werden, vor allem über die so genannten Vertriebenen.

Ein gütiger Blick

Die hessische Unionspolitikerin, innerhalb ihrer Partei selbst eher eine stramm konservative denn eine christliberale Figur, sagte nämlich zur Ausstellung „Flucht, Vertreibung, Integration“, sie könne ihr Projekt keineswegs ersetzen. Sie fühlte also unschöne Witterung in eigener Sache, und das, obwohl doch ihre Partei nun regiert – nicht mehr die für ihre Anliegen so ohrenverstopften Rot-Grünen. Obendrein hat Präsident Horst Köhler im Bonner Haus der Geschichte die Schau eröffnet – auch dies ein Zeichen, dass allzu hochfahrende Pläne, zumal ja immer im Konflikt mit Polen und Tschechien, nach wie vor keine günstige Wetterlage haben. Die Bonner Ausstellung lebt nämlich, in gewisser Hinsicht allzu politisch korrekt, vom gütigen Blick auf die Integration jener Flüchtlinge aus den ehemaligen deutschen Gebieten in die Landschaften und Gesellschaften des heutigen Deutschland.

Und doch, die außerordentlichen Besucherzahlen belegen dies, hat diese Ausstellung vermutlich mehr zu sagen als das, was Erika Steinbach je in einem Zentrum für (überwiegend der Deutschen) Vertreibungen realisieren könnte: ein multimediales Angebot versunkener Heimatlichkeit. Angeregt vom ersten rot-grünen Kulturstaatsminister, Michael Naumann, zentriert sich das Sehen auf die Ankunft der Vertriebenen in ihren neuen Heimaten. Auf den Kampf um Anerkennung, denn willkommen waren die Migranten nur selten. Eine Fotografie dokumentiert die Stimmungslage Ende der Vierziger während eines Karnevalsumzugs in Lahr: „Badens schrecklichster Schreck, der neue Flüchtlingstreck“. Sie wirkten wie bettelarme Verwandte, wie ungebetener Besuch, müde, erschöpft, genervt, nicht vorzeigbar in der guten Stube. Und dann ihre Sprache: Schlesisch, Pommersch – in einer Fülle von Idiomen und Färbungen. Verflüchtigt, quasi, bis heute: Nicht einmal Erika Steinbach spricht, wie man früher in Breslau, Danzig oder Königsberg eben so sprach.

Eine Allensbach-Umfrage, die das Haus der Geschichte zu einer Studie bündelte, belegt es krass: Ostpreußen, Schlesien … sind den meisten jungen Deutschen heute ferner als Antalya oder Fuerteventura. Viele alte Menschen, heißt es aus Bonn, besuchten die Ausstellung, manche bringen ihre Kinder und Enkel mit: Auch jene, die sich womöglich politisch zuerst stets für die Aussöhnung mit Osteuropa (und dem dort durch Nazideutschland angerichteten Horror) eingesetzt haben, können sich in den Bildern der Vertreibung wiedererkennen. Man hat in den letzten Jahren an den Beispielen aus dem früheren Jugoslawien gelernt, dass Vertreibung traumatisierend wirkt – unter brutalen Umständen erst recht.

Neue Suchbewegungen

Die Bonner Ausstellung, die im kommenden Jahr auch in Berlin wie in Leipzig zu sehen sein wird, zählt bereits zur neuen Suchbewegung im vergangenheitspolitischen Diskurs der Deutschen: dem, der fragt, was Deutschland zu dem machte, was es ist – von 1945 an. Die ARD-Dokumentation von Jan Schütte war das eine Projekt, eine gelegentlich triumphale Revue in O-Tönen von heute alten, in den Kriegsjahren zur Welt gekommenen Deutschen. Tenor: Die Freiheit, sich selbst ausprobieren zu können, ohne ideologischen Wahn, die haben wir genutzt.

 Die Geschichten der Vertriebenen gehören freilich dazu – die Tradition eines Echolots in alle Richtungen bindet an eine Wahrnehmung, die auch die unschönen Facetten nicht verschweigt: die Trauer um die kalte Heimat, den Verlust von Sicherheiten. Dass das funktioniert, ohne die Verantwortung für den Nationalsozialismus zu kaschieren, ist in dieser Ausstellung anständig materialisiert.

Das Gemurmel, das Weinen, das Trauern, das Erörtern … geht ohnehin weiter. Eltern, deren Eltern, überall hört man es, beginnen zu sprechen. Über sich, ihre Gefühle … ohne sie politisch aufzuladen. Das darf ausgehalten werden: Auch, dass heute Abend in der ARD das Spielfilmremake aus dem Jahre 2001 des TV-Schlagers „Soweit die Füße tragen“ aus den späten Fünfzigern läuft. Damals nichts als eine peinlich rührselige Geschichte über eine Flucht aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft, Wehrmachtsverbrechen nicht einmal andeutend. Heute ein Film wie aus einer Zeit, die blutig war, selbstgerecht, grausam. Und Nostalgie, die keinen politischen Kummer mehr machen muss. Erika Steinbach steht sich wie immer selbst im Wege.

Haus der Geschichte, Bonn: „Flucht, Vertreibung, Integration“. Bis 17. April, danach in Berlin und Leipzig. Dienstag bis Sonntag von 9 bis 19 Uhr, nicht am 23. und 24. Dezember. Eintritt frei. Der Katalog erschien im Kerber Verlag, Bielefeld 2005, 19,90 Euro