516 KILOMETER BIS ZUR MODERNEN STADT BERLIN
: Fisch essen macht sehnsüchtig

VON DIRK KNIPPHALS

Ausgerechnet in Westerland bekomme ich immer Lust, einen Ausflug ins alte Westberlin zu unternehmen. Neulich war ich mal wieder auf Sylt. Nach einem Strandspaziergang (an einem dieser wenigen, dann aber besonders beglückend sonnigen Tage) blickte ich dann halt wieder auf diesen Gedenkstein, der auf der Strandpromenade unterhalb des „Hotel Miramar“ steht und der in mir so eine leise Wehmut erklingen lässt, Quatsch, der in mir ein Interesse aufkommen lässt nach einem Ort, an dem ich niemals gewesen bin.

Ich meine ja nicht das reale Westberlin, sondern das imaginäre – das Westberlin der Vor-„Christiane F.“-Zeit, den Ort, der parallel zum Westberlin der Studenten existierte und in dem man nicht „anders“ leben wollte, sondern, herausgefordert vom Kaltem Krieg, vor allem normal und modern.

Es ist ein simpler weißer, rechteckiger Stein. Schwarz ist ein Berliner Bär aufgeprägt, darunter steht in serifenloser Schrift „Berlin 516 km“. Schon als Zehnjähriger habe ich vor diesem Stein gestanden und mir dann erklären lassen, dass aus Berlin viele der Menschen kamen, die am Strand in den Nachbarstrandkörben saßen. Westerland ist ja damals, da die Ausflugsmöglichkeiten zur Ostsee verschlossen waren, so etwas wie der bevorzugte Westberliner Strand- und Meerzugang gewesen; jedenfalls bevor alle gleich nach Mallorca flogen. Und ich habe mir erklären lassen, dass dieses Berlin viel weiter weg als Kiel liege, wo ich geboren wurde. Denn erstens seien 516 Kilometer ganz schön viele. Und zweitens stünde um Berlin auch noch eine Mauer drumherum.

Kann gut sein, dass dieser Ort damals in meinem kindlichen Bewusstsein etwas Märchenhaftes angenommen hat – auch wenn die Menschen, die in den Strandkörben saßen (damals baute man noch Strandburgen um sie herum) gar nicht märchenhaft, sondern ziemlich normal aussahen.

Zurück in Berlin, bin ich dann also ziemlich bald – inzwischen lag allerdings wieder Schnee – ein paar Stunden den Ku’damm hoch und runter gelaufen; denn mehr Westberlin geht ja wohl immer noch nicht. Und siehe: Natürlich ist das alte Westberlin selbst hier inzwischen viel weiter entfernt als 516 Kilometer (man stößt ja auch nicht mehr am Times Square auf „New York“ oder auf den Champs-Élysées auf „Paris“). Aber ab und zu gibt es schon noch sozusagen Einlasspforten in diesen imaginären Ort.

Die Verkehrskanzel Ecke Joachimstaler Straße ist zum Beispiel so etwas. Unter der Erde U-Bahn-Station und Klo, im Erdgeschoss Kiosk und oben drüber thronte auf einer Art verglastem Sprungturm ein Verkehrspolizist und kontrollierte das Verkehrsgeschehen. Modern, effizient, Beton gewordener großstädtischer Wunschtraum in Hinblick auf Übersichtlichkeit und Mobilität. Als Zehnjährigem hätte mir das gefallen.

In der manchmal geradezu irrwitzigen Mischung des Publikums im Grosz kann man auch manches Altwestberliner Element finden. Neben Torstraßenberlinern, die jetzt aus Imagegründen nach Mitte auch noch den alten Westen erobern wollen (und sich dort doch nur immer von den reichen Russen beeindrucken lassen), sitzen da plötzlich Damen, die mit Harald Juhnke schon „My Way“ sangen, als die Mauer noch gar nicht gebaut war. Toll sehen sie aus, wenn sie sich noch einmal fein machen.

Aber letztlich bin ich dann doch, nach einem Spaziergang zur Fußgängerzone Wilmersdorfer Straße, bei Rogacki gelandet. Das war das Beste, was mir auf meiner kleinen sentimental journey zurück an einen Ort, an dem ich nie gewesen bin, geschehen konnte. Stadtküche, Fischräucherei, Feinkostgeschäft, aber vor allem: Was für ein wirklich irgendwo märchenhafter Ort! Er bietet beides, eine Zeitreise ins alte Westberlin und ganz gegenwärtig eine schlichte, großartige Küche. Nur dass ich zwischen Altonaer Öfen und Fischfilet mit Weltklassekartoffelsalat sofort wieder Sehnsucht nach dem Meer bekam. Vielleicht gehörte die aber auch schon zum Lebensgefühl im alten Westberlin.