Eine Schule des Sehens

Zu Besuch in der Düsseldorfer Kunstsammlung K21: Fotografie-Professor Thomas Ruff schießt mit seiner Klasse Bilder für den guten Zweck. Dabei assistieren den Studenten sehbehinderte Jugendliche

VON BORIS R. ROSENKRANZ

Naja, das ist auch wirklich bescheuert. Einen Sehbehinderten zu fragen, wie er sieht. Der 16-jährige Sebastian zuckt die Achseln und sagt: „Ich sehe ganz normal, ich kenne es halt nicht anders.“ Dann steht man da in der Düsseldorfer Kunstsammlung K21, diesem prächtigen Bau, und guckt schön doof. Wie sehen andere die Welt? Wie sieht man sie überhaupt selbst? Und was war mit diesem Leica-Werbespruch: „Wer sehen kann, kann auch fotografieren. Sehen lernen kann allerdings lange dauern.“

Samstagmittag. Im weitläufigen Erdgeschoss des Ständehauses, wo das K21 beheimatet ist, steht der Düsseldorfer Fotografie-Professor Thomas Ruff hinter einem Kamerastativ und wartet auf Kundschaft. Besucher des Museums können sich heute von Ruff und seinen Studenten vor ihren Lieblingskunstwerken ablichten lassen, ein Benefiz-Projekt für Sehbehinderte, das die Ruff-Klasse und das Deutsche Blindenhilfswerk angeleiert haben. Rund 200 Euro kostet so ein Porträt vor Kunst, 200 Euro für den guten Zweck, der von Bundespräsidentengattin Eva Luise Köhler als Schirmherrin unterstützt wird. Nicht auf Anhieb allerdings: Wenn sie ihr Namen dafür hergebe, müssten auch sehbehinderte Jugendliche an dem Projekt aktiv mitarbeiten dürfen, hatte Frau Köhler gefordert. So geschah es dann auch.

Nach gemeinsamer Vorbereitung stehen nun auf allen Etagen sehbehinderte Jugendliche und Studenten der Ruff-Klasse bereit, um Männer und Frauen zu porträtieren. Oder Familien, die teilweise so aussehen, als hätten sie gerade unweit vom Ständehaus mit ihrem Sportboot angelegt. Mutti, Vati und zwei Kinder, alle in weiße Hemden gehüllt, der Vater erfolgsbraun, die Kinder angstblass – so werden sie vor Ruffs „Sternenbilder“ drapiert. Ein Arrangement wie aus einer Bank-Werbung, aber eben für den guten Zweck, also okay.

Dass die sehbehinderten Jugendlichen mitarbeiten, erweist sich schnell als Glücksgriff. Ruff-Schüler Christoph Westermeier assistiert der 14-jährige Kyrylo aus Duisburg. Zunächst fotografiert jeder für sich. Dann wird mit Doppelbelichtung gearbeitet: Erst stellt Christoph scharf, dann Kyrylo. Heraus kommt ein Foto, das zwei Sichtweisen vereint. Das Projekt der Ruff-Klasse ist eine Schule des Sehens – in vielerlei Hinsicht.

Einerseits sollen die Jugendlichen lernen, zu sehen, mit einer Kamera zu hantieren, zu fixieren, sich etwas abzugucken vom geübten Blick ihrer Mentoren. Andererseits soll die Öffentlichkeit auf Sehbehinderungen aufmerksam gemacht werden. Denn auch wenn sich Menschen hierzulande laut Umfragen am meisten davor fürchten, zu erblinden – im öffentlichen Bewusstsein rangiert die Behinderung weit abgeschlagen auf den hinteren Plätzen. Das Ruff-Projekt bietet da wenigstens ein bisschen Öffentlichkeit. Wenn auch nur für kurze Zeit.

Und im Falle von Christoph erreicht das Projekt noch eine dritte Stufe: Der 21-Jährige hat auf einem Auge nur 20 Prozent Sehstärke, was sein dreidimensionales Blickfeld einschränkt. Die Wahrnehmung der Sehbehinderten kann er deshalb gut nachempfinden. Rauminstallationen nähmen Sehbehinderte zum Beispiel ganz anders wahr, sagt er. Den an einem Seil unter dem Dach des Ständehauses befestigten Ventilator etwa, der unaufhaltsam seine unförmigen Kreise zieht. Unheimlich, wenn man nicht erkennt, was da durch die Luft brummt. Nein: bedrohlich. Das trifft es besser.

Meister Ruff amüsiert sich indes darüber, wie sich die Jugendlichen hinter der Kamera verhalten. Einer habe doch tatsächlich „cheese“ gesagt, als er für ihn posiert habe, sagt Ruff, lacht und geht selber wieder fotografieren.