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HilfeIm Takt des Schlachthofs

Das „Orchester im Treppenhaus“ spielt mit seinen Notfallkonzerten gegen die Übel der Welt. Die Konzertreihe startete vor dem Geflügelschlachthof in Wietze.

Vorn die Kunst, hinten die Tötungsmaschine: das Notfallkonzert in Wietze. : Moritz Küstner

WIETZE taz | Ach, wieder mal der schönsten Erfindung der Literatur geglaubt. Verliebt! Also verrückt. Und nun ist alles vorbei, alle Ruhe ist dahin. Selbst Heilgetränke wie Wein funktionieren nicht als Medikament. Also ab ins Sprengel-Museum. Dort bietet das „Orchester im Treppenhaus“ ein persönliches Notfallkonzert an, bevor die Reise zum Geflügelschlachthof nach Wietze geht.

Intensives Klangerlebnis

Der Auftrag bei diesem persönlichen Notfallkonzert: Das Orchester möge das Problem Liebeskummer kurieren. Die musizierenden Ärzte stecken ihre Köpfe zusammen, der Patient darf sich in einen Sitzsack hineinmummeln. Drumherum platziert sind vier Saiteninstrumentalisten und weben einen musikalischen Kokon um den Schmerzbeladenen. Selbst die beste Hightech-Anlage erschafft nicht ein derart intensives Klangerlebnis.

Gegen Liebeskummer gibt’s zur Aufmunterung den 3. Satz von Mendelssohns a-Moll-Streichquartett. Auch für andere Probleme sind die Musiker mit Hits aus dem klassischen Repertoire gewappnet: Bei entlaufener Katze hilft Schuberts sehnsüchtig verträumte „Rosamunde“, gegen Müdigkeit wird das „Amerikanische Streichquartett“ von Dvořák verabreicht und Wutausbrüche könnten mit Schuberts „Der Tod und das Mädchen“ beruhigt werden. Alles umsonst und drinnen.

Das ist Kunst, die ganz konkret im Alltag nützlich ist. Aber das ist erst der Anfang. Das Orchester will die Welt auch besser machen und bricht auf Richtung Celle: B 214, idyllisch designte Bauernhöfe, Freizeitanlagen zum Thema Erotik, Hähnchengrillstationen, überall Abzweigungen zum „Vogelpark Walsrode“.

Mit Prostituierten ausgestattete Wohnmobile schmücken die Feld-, Wald- und Wiesenwege. An einem Kreisel, 19 Kilometer vor Celle, steht dann ein handbemaltes Schild: „Mahn-Wache“. Seit 2010 trifft sich dort jeden Montag die Bürgerinitiative (BI) „Wietze für den Erhalt unseres Aller-Leine-Tals“.

Gut zwei Dutzend Aktivisten protestieren gegen den Schlachthof gegenüber. Eine gigantische, gesichtslose Anlage, abweisende Lagerhallenarchitektur mit glitzernden Schornsteinen. Ein mit Stacheldraht gekrönter Zaun grenzt das 21 Hektar große Areal ab, dahinter Todesstreifen-Anmutung: Überwachungskameras, Scheinwerfer, Wachmänner und Hunde.

Man sieht nichts, hört nichts, riecht nichts von dem, was in dem Hochsicherheitstrakt passiert. Ganz dick buhlt ein Emsländer Unternehmer mit dieser Ansiedlung um Marktanteile auf dem Geflügelfleischmarkt. 200.000 Tiere würden derzeit dort täglich geschlachtet, zerkleinert, verpackt, sagt die BI-Vorsitzende Uschi Helmers.

Gesucht wurden dafür 400 Bauern der Region, die bereit waren, Mastställe à 40.000 Hühner zu bauen. Aber die Gewinnmargen scheinen zu gering. „Sogar aus Dänemark werden nun Hühner herangeschafft, von zwei geplanten Schlachtstraßen ist bisher auch nur eine gebaut worden“, sagt Helmers. Industriemäßiges Töten. Nicht schön.

Aber gibt es überhaupt tiergerechtes Töten – im Fließband-Akkord oder wenn Opa den Stallhasen zum Sonntagsbraten macht? Ein ASB-Kleinbus fährt vor. „Wir helfen hier + jetzt“ steht darauf. Vier Notfallmusiker steigen aus, Pressevertreter für Kultur und Lokales im Gepäck. Solidarität zeigen, Widerstand verstärken, Öffentlichkeit vergrößern.

Gedenken für Hühner

Man wolle einiger der gerade jetzt sterbenden Hühner gedenken, liest ein Musiker vor: sie davon befreien, bloße Ware zu sein, einen symbolischen Lichtblick in ihrem kurzen Leben setzen. Viel älter als einen Monat werden sie ja nicht, mit Kraftfutter bis zum Umfallen gemästet, zwei Kilo Lebendmasse sind das Todesurteil.

Für sein Stück hat Komponist Benjamin Scheuer 200 Namen recherchiert, die Hühnerbesitzer ihren Lieblingen so geben. Diese werden nun nach und nach skandiert. Seufzerhaft geht’s los, ein Lamento für „Berta“.

Knappe Charakterskizzen sind im Folgenden zu hören – Melodiefragmente, Klanggesten und Effekte wie drei gockelstolze, gezupfte Töne. Die gegeneinander gesetzten Motive, kleine Requiem-Momente, geraten zunehmend kürzer, das Tempo steigert sich. In der ersten Aufführungsminute werden acht Hühnernamen vertont, in der zweiten Minute sind es 20 – immer gehetzter nähert sich das Streichquartett dem Takt der Tötungsmaschinerie: 120 Schlachtungen die Minute, dabei fliegt die Komposition auseinander.

Nur ein Symptom

Menschen können nicht so schnell musizieren wie Nutztiere töten. Pfiffig wird so eine Idee zur musikalischen Form. Protest zur Kunst. Kurz, intensiv und lebendig. Toll! Nur am falschen Ort: Der Schlachthof ist ja eher ein moralisch besonders unappetitliches Symptom der massenhaften Nachfrage nach billigem Fleisch.

Solange das Volkes Mehrheitswille ist und in der Folge auch Hunderte Arbeitsplätze und einige Steuereuro der 8.000-Einwohner-Gemeinde Wietze zugute kommen, werden solche Anlagen auch politisch gewollt und gefördert. Die nächsten Notfallkonzert-Aufführungen „Huhnmaner Tod“ gehören also an die Fleischtheken der Nation, in die Discounter.

Nächste Notfallkonzerte in Hannover: Frischluft: 9. 7., 17 Uhr, Kreuzung Hildesheimer Straße/Südschnellweg; Abhörschutz: 9. 7., 18 Uhr, Landtag; Schulden Kunst Kapital: 10. 7., 15 Uhr, Sprengel-Museum

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