„Abgelöst vom Halbgott in Grau“

Starre Hierarchien, extremer Druck und schlechte Zukunftsaussichten führen zu Unzufriedenheit in den Kliniken – und zu enttäuschtem Statusdenken, meint der Gesundheitswissenschaftler Hagen Kühn. Das treibt die Ärzte auf die Straße

INTERVIEW SABINE AM ORDE

taz: Herr Kühn, in dieser Woche wollen die Klinikärzte wieder streiken. Woher kommt die große Unzufriedenheit?

Hagen Kühn: Da kommt viel zusammen. Die verkürzte Liegedauer der Patienten führt zu mehr Arbeit in kürzerer Zeit. Die Arbeitsintensität ist heute im ganzen Krankenhaus so, wie es früher nur auf der Intensivstation war. Tätigkeiten wie die Kodierung der Arbeit für die Fallpauschalen oder Dokumentationen kommen hinzu. Die Belastung erhöht sich, die Kliniken stellen aber kein zusätzliches Personal ein und verbessern die Arbeitsorganisation auch nicht ausreichend.

Das geschieht in vielen Branchen. Was ist bei den Ärzten so schlimm?

Viele Medizinstudenten gehen noch immer mit einem gewissen Statusdenken an den Arztberuf heran– und werden enttäuscht. Assistenzärzte werden oft schon voll eingesetzt, ohne über die notwendigen Erfahrungen zu verfügen. Oft werden sie nicht hinreichend angeleitet, dafür gibt es auch zu wenige Oberärzte. Das führt vor allem in den ersten Jahren zu extremem Druck. Außerdem gibt es eine Reihe von Abhängigkeitsbeziehungen. Hinzu kommt: Wir leben in einer Gesellschaft, in der Geld und Markterfolg immer mehr zum Maß aller Dinge werden. Daran gemessen, werden die Anstrengungen der jungen Ärzte nicht ausreichend belohnt.

Genügt es nicht, dass Geld und Anerkennung später folgen?

Die Aufstiegschancen in der Klinik sind nicht mehr so gut wie früher, die Personalausstattung expandiert nicht mehr.

Und was ist mit der Perspektive, eine Praxis zu eröffnen?

Auch das geht nicht mehr so leicht. Die Zahl der Zulassungen ist beschränkt und Praxen sind vielfach nur noch in wenig attraktiven Gegenden zu haben. Fast 40 Prozent der Klinikärzte würden sich ein zweites Mal eher nicht oder nicht mehr für den Arztberuf entscheiden. Viele haben Ansprüche an ihre Arbeit, die sich mit dem Alltag in der Klinik nicht decken.

Können Sie ein Beispiel nennen?

Wir haben die Ärzte gefragt, ob man den Patienten wirksame Leistungen aus Kostengründen vorenthalten darf, zum Beispiel ein teures, aber hilfreiches Medikament. Das haben 86 Prozent der Ärzte verneint. Zugleich gibt aber die Mehrheit an, dass dies in ihrem Bereich praktiziert wird. Viele Ärzte arbeiten also so, wie sie es eigentlich ablehnen.

Wie gehen die Ärzte damit um?

Sehr unterschiedlich. Auffällig ist, wie sich die Sicht auf die Patienten verändert. Vor 30 Jahren galten sie als Laien, die nicht wissen, was gut für sie ist. Heute gilt der Patient tendenziell als ein Kunde, der grenzenlose Bedürfnisse hat, die man auch mal einschränken muss.

Die Ärzte kritisieren 36-Stunden-Schichten, Arbeit bis zur totalen Erschöpfung. Ist das die Normalität in den hiesigen Krankenhäusern?

Für die Assistenzärzte war das früher Normalität, heute ist es immer noch verbreitet. Die Regeln an den einzelnen Krankenhäusern sind aber sehr unterschiedlich. An manchen Kliniken werden alle Überstunden aufgeschrieben und bezahlt oder abgefeiert, an anderen gar keine. Und in manchen Kliniken wird über Betriebsvereinbarungen verhindert, dass der Tag nach dem nächtlichen Bereitschaftsdienst als Normaldienst weitergeht, oder festgelegt, dass man Überstunden ab einer bestimmten Anzahl sofort abfeiern muss.

Der Marburger Bund fordert neben besseren Arbeitsbedingungen 30 Prozent mehr Gehalt für Klinikärzte. Wäre die Mehrheit von ihnen bereit, für mehr Lebensqualität auf Geld zu verzichten?

Ich bin da skeptisch. Als Personalrat in einer Klink habe ich in den Siebzigerjahren vorgeschlagen, mit dem Geld für die Überstunden lieber Neueinstellungen zu finanzieren. Dafür wurde ich von den Ärzten angefeindet. Sie wollten nicht weniger verdienen.

Von 2007 an müssen Bereitschaftsdienste auf die Arbeitszeit angerechnet werden. Löst das die Probleme?

Das wäre zumindest eine Erleichterung, aber es wird auch ziemlich teuer. Ich bin gespannt, wie sich die Krankenhäuser aus der Affäre ziehen. Notwendig wäre auch eine bessere Arbeitsorganisation. In vielen Kliniken ist der Alltag auf den Stationen nicht angemessen organisiert.

Wie wirkt sich das aus?

Die Patienten wissen häufig nicht, welcher Arzt ihr Ansprechpartner ist. Das Pflegepersonal weiß nicht, welcher Arzt gerade Dienst hat. Manchmal weiß niemand den Grund der Einweisung, manchmal werden bereits angeordnete Diagnosen wieder verschoben.

Warum ist die Organisation so schlecht?

Das liegt auch an den Unterordnungs- und Abhängigkeitsbeziehungen. Oft ist alles auf die Person des Chefarztes zugeschnitten, der ist aber nicht immer ein guter Organisator.

Wenn alle zufrieden sind, warum tut sich dann nichts?

Es tut sich schon einiges, indem zum Beispiel typische Arbeitsabläufe bei häufigen Krankheiten standardisiert werden. Aber die Hierarchie in den Abteilungen ist zu spitz. Davon abgesehen vollzieht sich auf der Leitungsebene eine Machtverschiebung zugunsten der Verwaltung. Man sieht das etwa an neuen Chefarztverträgen, die vorsehen, dass die Einnahmen von Privatpatienten grundsätzlich der Klinik zustehen, die dann ihrerseits den Chefarzt beteiligt.

Ist das der Abschied vom Halbgott in Weiß?

Der Halbgott in Weiß wird allmählich abgelöst vom Halbgott in Grau.