DIE EROSION DES WOHLFAHRTSSTAATS HÖHLT AUCH DEN STATUS DES RECHTSSUBJEKTS AUS. ES BLEIBT DER HOMO OECONOMICUS: Der Markt frisst seine Kinder
ISOLDE CHARIM
In ihrem neuen Buch „Demokratie! Wofür wir kämpfen“ fällen Toni Negri und Michael Hardt ein harsches Urteil über die Linken. Diese seien zu „Jammerparteien“ geworden, die sich in Nostalgie nach dem Wohlfahrtsstaat ergehen. Vielleicht sollte man aber jenseits von dessen Verklärung als Sozialidyll einen kurzen Blick auf das werfen, was der Sozialstaat tatsächlich geleistet hat. Dieser war nicht nur ein ökonomischer Schutz vor den Unwägbarkeiten des Markts sowie vor Risiken und Zufällen. Dieser Wohlfahrtsstaat war nicht nur der Versuch einer politischen Steuerung der Ökonomie durch Stabilisierung oder durch den Ausbau öffentlicher Güter. Er war vielmehr eine Gestalt der sozialen Demokratie – einer Demokratie also, in der zu den politischen und juristischen Rechten die sozialen hinzukamen. Soziale Rechte haben heißt aber, Anspruch auf soziale Sicherstellungen zu haben, es heißt, als jene Person, als jener Bürger anerkannt zu sein, der über solche Rechte verfügt.
Aus diesem Grund hatte der Wohlfahrtsstaat nicht nur eine ökonomische Funktion – er hat auch „Massenloyalität erzeugt“ (Helmut Dubiel), ökonomische wie symbolische Integration.
Diese symbolische Integration bedeutete nicht, dass bestehende Subjektivitäten durch Sozialleistungen eingebunden wurden. Denn diese Bürger, die soziale Rechte haben, wurden eben dadurch – also durch den Anspruch, der ihnen zugebilligt wurde – erst hergestellt. Der Sozialstaat erzeugt die Subjekte (als Identität), denen er Rechte zuspricht, durch dieses Zusprechen. Zugehörigkeit und Herstellung der Person fallen in eins.
Diese Subjektivität ist klar definiert. Es ist das Rechtssubjekt. Es existiert neben und gegen jenen Typus, der ihm diametral entgegengesetzt ist: dem Homo oeconomicus, dem Marktsubjekt. Die Verdoppelung Rechtssubjekt/Homo oeconomicus ergänzt die Unterscheidung Bourgeois/Citoyen, denn sie erweitert die politische citoyenneté durch das, was man mit Etienne Balibar als citoyenneté sociale bezeichnen könnte – eine Zugehörigkeit als politische und soziale Rechte habender Bürger.
Der Rückbau des Wohlfahrtsstaats ist wesentlich Rückbau dieser Subjektivität, Aushöhlung des Status der Rechtsperson. Es bleibt der Homo oeconomicus. Denn der Wohlfahrtsstaat verwandelt sich von einer Instanz zum Schutz vor dem Markt zu einer, die vornehmlich darauf abzielt, die „Marktgängigkeit der Individuen zu befördern“ (Martin Kronauer). Also selbst der Wohlfahrtsstaat befördert nicht mehr die Rechtssubjektivität, sondern nur die Integration des Homo oeconomicus: nicht als Rechte habende Bürger, sondern als Individuum, das Verpflichtungen erfüllen muss. Soziale Rechte sind zunehmend an Leistungen gebunden, nicht aber an einen Subjektstatus. Diese Art der Integration qua Leistung befördert damit gleichzeitig den Rückbau der Integration qua Rechte. Anders gesagt: Sie zerstört die Konstitution der Bürger als Rechtssubjektivitäten.
Wenn aber ökonomische und symbolische Inklusion wieder auseinandertreten – und das bedeutet die Erosion des Wohlfahrtsstaats –, wenn sie zu „getrennten Elementen“ werden, die „mit getrennten Politikstrategien“ verfolgt werden (Dubiel), dann entsteht das, was Lawrence Goodwyn einen „populistischen Moment“ nannte. Dann kippt die Balance zwischen ökonomischer, sozialer und kultureller Inklusion. Dann hat man jene Situation, wo ganze Bevölkerungsteile „gesellschaftlich obdachlos“ werden und deren symbolische Inklusion, ihre Anrufung als Subjekte zum Spielfeld des rechten Populismus wird. Da kann man schon ein bisschen nostalgisch werden.
■ Isolde Charim ist freie Publizistin und lebt in Wien
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