Assessment für Grundschüler

Wer in NRW zum Gymnasium darf, bestimmen künftig ausschließlich die LehrerInnen – im Zweifel durch dreitägigen „Prognoseunterricht“. Ein ungerechtes Instrument, finden Schulpsychologen

von MIRIAM BUNJES

Eltern sollen in Nordrhein-Westfalen künftig deutlich weniger Einfluss auf die Schulkarriere ihrer Kinder nehmen können. Angehende Fünftklässler erhalten von ihrer Grundschule im vierten Schuljahr ein Gutachten mit einer Schulformempfehlung. Wollen die Eltern der Empfehlung nicht folgen, müssen die Kinder ihre Leistungsfähigkeit drei Tage lang im so genannten Prognoseunterricht beweisen. Das Ergebnis der drei Tage soll verbindlich sein.

Die Prognoserunde für Viertklässler sorgt für viel Aufregung in Nordrhein-Westfalen. Heute wird sie mit anderen Eckpunkten einer Schulrechtsnovelle im schwarz-gelben Landeskabinett beraten (siehe Kasten). „Das Bildungsgefälle in Nordrhein-Westfalen wird dadurch noch weiter wachsen“, sagt Andreas Meyer-Lauber von der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft NRW (GEW): „Insbesondere die Kinder ärmerer Eltern werden an der höheren Hürde scheitern, denn sie werden in den Grundschulen eher in untere Schulformen eingeordnet.“ Gymnasien würden in NRW immer weiter abgeschottet. „Und von einer anderen Schulform zum Gymnasium steigen nur die wenigsten auf“, sagt Meyer-Lauber: „Wenn der Zugang jetzt erschwert wird, haben deutlich weniger Kinder überhaupt einen Zugang zur höheren Bildung und dadurch auch zum beruflichen Aufstieg.“

Tatsächlich zeigte die PISA-Studie, dass in NRW ein Kind aus einer Akademikerfamilie mit einer 4,35 Mal so hohen Wahrscheinlichkeit ein Gymnasium besuchen kann wie ein Kind aus einer Facharbeiterfamilie – bei gleicher Schulleistung. Und das liegt – das zeigen auch andere sozialwissenschaftliche Untersuchungen – ebenfalls an den ungleichen Empfehlungen der GrundschullehrerInnen. Der Prognoseunterricht soll nach Willen der nordrhein-westfälischen Schulministerin Barbara Sommer (CDU) diese Ungerechtigkeit ändern.

Bislang ist das Sommersche Steuerungsinstrument jedoch wissenschaftliches Neuland. Stattfinden soll der Drei-Tage-Test zentral im Schulamtsbezirk. Unterrichten sollen sowohl Grundschullehrer als auch die Lehrer der angestrebten weiterführenden Schulform. Getestet wird das gesamte Grundschulwissen. „Fortbildungen für Lehrer sind gar nicht vorgesehen“, kritisiert Gewerkschafter Meyer-Lauber. „Die Methode ist völlig unausgegoren.“

Auch die Soester Schulpsychologin Ursula Scheibe-Wächter sieht die neuen Auswahlmethoden kritisch: „Die Grundschüler stehen in den drei Tagen unter sehr starkem Druck, was sich möglicherweise auf ihre Leistungen niederschlägt“, sagt die Vorsitzende des nordrhein-westfälischen Landesverbandes Schulpsychologie.

Außerdem mache es wenig Sinn, so junge Schüler ausschließlich nach ihren Leistungen zu beurteilen und nicht nach ihren Leistungspotenzialen. „Wozu ein Kind fähig sein kann, wenn es gefördert wird, ermittelt man nicht in einer dreitätigen Prüfungssituation.“

Sie findet eine Aufteilung von Viertklässlern in unterschiedliche Schulformen generell für zu früh, da die Schüler sich in diesem Alter auch leistungsmäßig noch sehr stark verändern. „Viele machen in der Pubertät noch einen enormen Leistungssprung, wenn man sie lässt“, sagt Scheibe-Wächter. „Das wird im deutschen Schulsystem nicht berücksichtigt und die neue Methode verfestigt ein Selektionssystem, das die Individualität nicht mitberücksichtigt und nur nach der aktuellen Leistung guckt.“