Kritik der Woche
: Schönes Schweigen: Das erste norddeutsche Tanztreffen

Im Verborgenen der Stadttheaterobhut hat das Tanztheater eine neue Verständlichkeit entwickelt. Neoklassische Possierlichkeiten, Politdumpfheiten, Selbstfindungsgetue, wildes Körperbefreien: findet alles nicht mehr statt. Stadttheatertanz feiert wieder die Erotik der Physis. Schöne Körper vollführen schöne Bewegungen, dem Alltag abgeschaut, auf emotionalen und intellektuellen Gehalt untersucht und weiterentwickelt. Und das Allerschönste: die TänzerInnen schweigen. Es passiert sowieso schon viel zu viel gleichzeitig auf der Bühne, dass man gar nicht weiß, wo man hinstaunen soll. Von dieser Vielfalt kündete das erste norddeutsche Tanztreffen vergangene Woche im Bremer Schauspielhaus. Am Pilotprojekt beteiligten sich die Bühnen aus Osnabrück, Kiel, Hildesheim, Hannover, Braunschweig, Bremerhaven, Bielefeld, Oldenburg und Bremen.

Da das Tanztheaterpublikum kein reiselustiges ist, erfährt es via Festival von choreografischen Möglichkeiten, die vor der Haustür gedeihen. Dadurch soll ein Qualitätsbewusstsein geschaffen und der Einzugsbereich der Ensembles vergrößert werden. These: Wenn ein Bremer Zuschauer die Tänzer Osnabrücks spannend findet, fährt er dort auch mal hin. „Damit arbeiten wir auch gegen die dauernde Diskussion über Schließung von Tanzsparten an“, erklärt Mitorganisatorin Patricia Stöckemann. Zum Festival-Finale zeigte Hildesheims Ballettchef Carlos Matos sein Werk „Last Moments“: Flink und wendig hasten die Körper mit balgender Zärtlichkeit über die Bühne, stürzen umeinander, winden sich von- und zueinander. Es geht ums Risiko, sich fallen zu lassen, gehalten, gefangen, gestützt zu werden. Suche nach Nähe bis zum erstickenden Klammern, Umschlagen des Drucks in Aggressivität: Energisch, kraftvoll, schön. Das versteht jeder.

Anschließend präsentierte der neue Bielefelder Ballettdirektor Gregor Zöllig Werke aus seinem achtjährigen Schaffen in Osnabrück. Zum Blues von Tom Waits tanzt ein Mann sich hübsch für den Tag, endet aber immer wieder kuschelnd auf der Matratze. Von ebenso schöner Einfachheit: „Schwarz/Weiß“. Ein dunkelhäutiger Mann und eine weißhäutige Frau genießen ihre so attraktiven wie nackten Oberkörper, bis die Arme schwingen wie im Vogeflug und so das Schwinden der Erdenschwere im Glück der Sexualität vermitteln.

Die Voraussetzungen der Ensembles sind ähnlich: Die Stadttheater können mit geringen Etats meist nur gut zehn TänzerInnen trainieren – und pro Saison drei, vier Uraufführungen herausbringen. Vielleicht ein dutzend Aufführungen daheim, hinzu kommen zwei, drei Gastspiele. Man kommt aus der eigenen Stadt selten heraus, genießt es statt dessen, in Ruhe ein Repertoire aufzubauen. Das 2. Norddeutsche Tanztreffen wird im Juni 2006 in Oldenburg stattfinden. Jens Fischer