Und ewig grüßt der Wahn

Dmitri Tcherniakovs Science-Fiction-Inszenierung von Mussorgskis rauer Oper „Boris Godunov“ feierte an der Staatsoper Premiere – und löste teils einiges Missfallen aus

Die neuen Reichen von Moskau haben das Kloster von Nowodewitschi erobert. Nur ein paar eingemauerte goldene Relieftafeln erinnern an vergangene Frömmigkeit. Das Volk geht seinen Geschäften nach, mit Handys am Ohr und Einkaufstüten in der Hand. Teure Auslagen hinter Glas und Stahl und eine rotierende Weltkugel markieren das Zentrum eines Weltreiches von heute. Rot leuchtende Datumsziffern stehen auf Februar 2012.

In so naher Zukunft also soll sich laut Regisseur Dmitri Tcherniakov erneut ereignen, was für Modest Mussorgski von 1598 bis 1605 geschah: der Aufstieg und Fall des Zaren Boris Godunov – in der Inszenierung begriffen als Prototyp russischer Machtausübung, der sich bis heute wiederholt. Als sei die Zeit stehen geblieben, befiehlt ein Polizeioffizier dem Volk, es solle auf die Knie fallen und beten für einen neuen Zaren. Der Bass Yi Yang hat es in dieser Rolle ein wenig schwer, sich Gehör zu verschaffen: nicht nur, weil das Volk murrt, sondern auch, weil Daniel Barenboim seine Staatskapelle in der ersten Szene noch derart begeistert den rauen Ton von Mussorgskis Erstfassung herausspielen lässt, dass die Balance zu Ungunsten des Gesangs leidet.

Spätestens mit dem Auftritt von René Pape als nunmehr gekrönter Zar Boris verschwinden solche Störungen, und Barenboim gelingt eine lebendige, farbenreiche Interpretation dieser Musik aus dem Jahr 1869. Noch immer klingt es unerhört, mit welcher Kühnheit Mussorgski versucht, dem strukturellen Wahnsinn der Godunov-Herrschaft Ausdruck zu verleihen. Boris, der absolute Herrscher von Gottes Gnaden, verzweifelt, weil sein Volk ihn nicht liebt. Er selbst ist durch Mord am sieben Jahre alten legitimen Thronerben an die Macht gekommen. Der Mönch Pimen (Alexander Vinogradov zeichnet ihn als frömmelnden Eiferer) deckt das Verbrechen auf, Klosterbruder Gregorij will daraufhin den Zaren stürzen und zieht mit seinen Truppen vor Moskau auf: Boris flieht in den Wahnsinn. Von den Bildern des Ermordeten verfolgt stirbt er umnachtet.

Zweifellos hat sich Mussorgski weniger für Psychologie interessiert als für die darin gespiegelte Tragödie des russischen Reiches. Was René Pape in seinem Gesang umsetzt: beherrscht in jeder Phrase, als gehöre das eigene Gefühl nicht ihm, sondern einem größeren, transzendenten Ganzen. Folgerichtig reduziert Tcherniakovs Regie auch die anderen Personen zu bloßen Funktionen eines gesellschaftlichen Verhängnisses. Ein Teil des Publikums reagierte darauf mit heftigem Missfallen. Offenbar wurde die große russische Oper vermisst. Barenboim und sein Ensemble führten stattdessen höchst eigenwillige Lehrstücke auf, deren Klang immer wieder neu erfunden werden muss. An der Staatsoper ist das gelungen. NIKLAUS HABLÜTZEL