Komplize der konkreten Utopie

NACHRUF Daniel Bensaïd, Protagonist der revolutionären Linken Frankreichs, ist tot

AUS PARIS RUDOLF BALMER

Den kurzen Nachrufen in zahlreichen französischen Zeitungen zufolge hat die trotzkistische Linke in Frankreich ihren „Kopf“ verloren. Daniel Bensaïd war den Medien bekannt als Philosoph, der sich mit der Erneuerung des Marxismus befasste und sich gelegentlich auch kritisch mit Modeintellektuellen wie Bernard-Henri Lévy anlegte. Der Öffentlichkeit war er als politischer Aktivist weit weniger ein Name als Alain Krivine oder Olivier Besancenot, die bei Präsidentschaftswahlen kandidiert hatten und als Sprecher der trotzkistischen Strömung auftraten.

Bensaïd oder „Bensa“ war aber eines der wichtigsten Leitungsmitglieder der 1938 von Trotzki gegründeten „Vierten Internationale“. Er hatte zusammen mit Krivine nach dem Ausschluss aus der Kommunistischen Partei Frankreichs (PCF) 1966 die Revolutionäre Kommunistische Jugend (JCR) und später die Kommunistische Liga gegründet. An der Seite des Briefträgers Besancenot und anderer revolutionärer Linker engagierte er sich vergangenes Jahr noch stark beim Aufbau der Neuen Antikapitalistischen Partei (NPA).

Schule der Bescheidenheit

Die linke Zeitschrift Politis würdigte ihn als „Symbol einer politischen Generation“ und als „marxistischen Philosophen, der es verstand, die Unnachgiebigkeit des Revolutionärs mit der geistigen Freiheit eines echten Intellektuellen zu kombinieren“. PCF-Chefin Marie-George Buffet bescheinigt ihm, er habe „unablässig den Beitrag von Marx im Lichte der historischen Erfahrung sowie der theoretischen und politischen Fragen unserer Epoche erneuert“.

Jean-Christophe Cambadélis, heute Sozialist, früher Trotzkist, schreibt, dass Bensaïd, obschon bis zu seinem Tod Trotzkist, auch für die Sozialdemokratie nützlich war, „weil er verstanden hatte, dass Demokratie und Einheit die besten Mittel sind, um die Ziele des Sozialismus zu erreichen“.

Als Student in Nanterre war Bensaïd neben Daniel Cohn-Bendit Mitglied der „Bewegung des 22. März“, die als Wegbereiter des Mai 68 gilt. Als angehender Philosophieprofessor an der Universität Paris VIII, die damals ein Forum der revolutionären Linken war, setzte sich Bensaïd mit den Texten der neuen kritischen Stimmen (Althusser, Foucault, Deleuze und Fanon) auseinander, aber auch mit Lukács und insbesondere mit Walter Benjamin, dem er 1990 ein Buch („Walter Benjamin, sentinelle messianique“, Edition Plon) widmete.

Während andere im Mai 68 unter dem Pflaster des Pariser Quartier Latin einen Strand vermuteten, suchte Daniel Bensaïd sein Leben lang hinter den schnell überholten Slogans oder Dogmen den Kern einer stets durch die Praxis und die politische Erfahrung zu überprüfenden revolutionären Theorie. Er war in diesem Sinne nicht ein Philosoph und ein Aktivist, sondern ein philosophierender Aktiver oder ein Philosoph der Tat.

Und dies nicht lediglich in Anwendung der 11. Feuerbachthese von Karl Marx: „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es kommt aber darauf an, sie zu verändern.“ Bensaïd betrachtete die militante politische Praxis auch als „Schule der Bescheidenheit, weil du damit in Kauf nimmst, dass du niemals allein denkst und handelst“.

Im Unterschied zu vielen seiner Generation, die in Frankreich nach ihren „wilden Jahren“ als Trotzkisten, Maoisten oder Anarchisten schnell Karriere machten, bei den Sozialisten in der Partei, als Journalisten in den Medien oder auch in den Chefetagen des Kapitals, blieb „Bensa“ der unermüdliche Maulwurf, der weiterwühlte in der Gewissheit, dass die bürgerliche Ordnung eines Tages zusammenbrechen muss.

Er wusste allerdings, dass er diesen Tag nicht erleben würde. Bensaïd war seit einiger Zeit krank, nach langer Krankheit erlag er am Dienstag einem Krebsleiden.

Vorher wollte er „die positiven Aspekte des revolutionären Erbes an die neue Generation übergeben“, sagte er 2004 in einem Interview zu seinem Buch „Une lente impatience“ („Die langsame Ungeduld“). „Wir haben viele Dummheiten gemacht, aber nicht nur Dummheiten“, meinte er zu diesem kritischen Rückblick auf einen von heroischen Momenten und vielen Rückschlägen geprägten Kampf. „Wenn die strategischen Linien undeutlich werden und sich aufzulösen drohen, muss man auf das Wesentliche zurückkommen: was die Welt, wie sie ist, unakzeptierbar macht und es uns verbietet, die Sachzwänge resignierend hinzunehmen.“

Die konkrete Utopie von einer besseren und gerechteren Welt hat einen Komplizen verloren.