„Wir brauchen eine EU-Steuer“

Die Finanzkrise der EU verdeckt nur ihre tiefe Identitätskrise, sagt der belgische Premierminister Guy Verhofstadt. Er will die Europäische Union langfristig zu einem Staatenbund entwickeln – trotz des Verfassungsdebakels in diesem Jahr

taz: Herr Verhofstadt, die EU versucht ab morgen ihre Haushaltskrise zu lösen. Sind Finanzen ihr größtes Problem?

Guy Verhofstadt: Ich bin schockiert, dass sich in den letzten Monaten ein großes Schweigen über die EU ausgebreitet hat. Im Juni, nach den negativen Ergebnissen der Verfassungsreferenda in Frankreich und den Niederlanden, haben wir eine Denkpause beschlossen. Aber diese Denkpause ähnelt eher einer spanischen Siesta. Niemand will über die Zukunft Europas sprechen. Die Regierungen kümmern sich nur noch um Kleinigkeiten, Kommata und Zahlen.

Das ist das Thema des aktuellen Haushaltsstreits …

Natürlich geht es um Zahlen, aber niemand spricht bei diesen Verhandlungen vom europäischen Gesamtinteresse. Alle rechnen ihre eigenen Vor- und Nachteile aus. Einen Kompromiss finden bedeutet heute, 25 Einzelbedürfnisse zu befriedigen. Das hat nichts mit einem europäischen Haushalt zu tun! Das europäische Interesse ist völlig in den Hintergrund getreten.

In ihrem neuen Buch „Manifest für ein neues Europa“ schlagen Sie vor, den EU-Haushalt direkt vom Steuerzahler bestreiten zu lassen. Wie soll das gehen?

Zurzeit ist der Anteil an Eigenmitteln der EU sehr gering, nur einige Zolleinnahmen und ein Teil der Mehrwertsteuer. Ich schlage vor, eine spezielle EU-Steuer einzuführen und die Steuern auf nationalem Niveau zu senken, damit sich für den Bürger nichts ändert. Der Vorteil wäre: Die EU wäre unabhängiger von Diskussionen über Netto-Zahler und Netto-Empfänger.

Heute will der britische Premierminister Tony Blair einen neuen Vorschlag zu den EU-Finanzen vorlegen. Wie bekommt er Ihre Zustimmung?

Wir brauchen einen Haushalt, der hoch genug ist, um die wachsenden Aufgaben der Union zu bezahlen. Dazu gehört zum Beispiel der Kampf gegen Terror und Kriminalität sowie die Immigration. Deshalb dürfen wir auf keinen Fall unter ein Prozent des Bruttoinlandsprodukts kommen. Und wir müssen die Verträge einhalten: Was wir den neuen Mitgliedsländern versprochen haben, müssen wir ihnen jetzt auch geben.

Und der Britenrabatt?

Der Rabatt ist sicherlich noch gerechtfertigt, aber er muss angepasst werden. Es kann zum Beispiel nicht sein, dass die Briten weniger für die Erweiterung zahlen als die anderen Staaten. In diesem Sinn ist der jetzige Vorschlag aus London inakzeptabel.

In Ihrem Buch entwerfen Sie ein Konzept von den Vereinigten Staaten Europas. Halten Sie das trotz der gescheiterten Verfassung für realistisch?

Ich schlage vor, verschiedene Kreise zu bilden, die gemeinsam die Organisation der Vereinigten Staaten Europas bilden sollen. Diese Organisation, die immer weiter wachsen kann, sollte die Sicherheit des Kontinents garantieren. Innerhalb dieser Familie sollen die Länder der Eurozone eine Föderation bilden und enger zusammenarbeiten, wenn es um Wirtschafts-, Außen- und Sozialpolitik geht. Wir können nicht eine Währungsunion haben, aber so unterschiedliche Wirtschaftspolitiken verfolgen. Sonst werden die Spannungen immer weiter ansteigen und das bringt die ganze Maschinerie in Gefahr. Deshalb müssen wir uns aufeinander zu bewegen. Diese Gruppe steht allen offen, die mitmachen wollen und die Kriterien des Stabilitätspakts erfüllen. Und das halte ich durchaus für realistisch.

Wie stellen Sie sich diese engere Zusammenarbeit denn vor?

Ich will keine totale Harmonisierung, sondern Minima und Maxima, zum Beispiel in der Steuerpolitik oder bei den sozialen Sicherungssystemen. Die Maxima müssen den Wettbewerb unter den Ländern garantieren und das Wachstum ankurbeln. Und die Minima brauchen wir gegen Sozialdumping. So können wir einen echten europäischen Wirtschaftsraum schaffen.

Haben Sie schon Reaktionen Ihrer Kollegen – zum Beispiel aus Berlin?

Ich hoffe zumindest, dass wir wieder eine echte Debatte bekommen. Der deutsche Koalitionsvertrag ist in diesem Sinne vielversprechend. Auch da wird eine engere Zusammenarbeit der Länder der Eurozone angesprochen. Ich habe das Buch nicht geschrieben, damit meine Kollegen vor mir auf die Knie fallen und das Konzept preisen. Aber wir brauchen eine Vision, die uns voranbringt. Ich vergleiche die EU mit einem Fahrrad: Wenn es nicht vorwärts geht, fällt es um.

Glauben Sie, dass diese Panne schon beim morgigen Gipfel passiert oder hoffen Sie noch auf einen Kompromiss im Budget-Streit?

Ich hoffe, dass wir einen Kompromiss finden. Den braucht Europa. Aber ich möchte darauf kein Geld verwetten. Auf jeden Fall muss Tony Blair einen neuen Vorschlag machen. Sonst ist eine Lösung undenkbar.

INTERVIEW: RUTH REICHSTEIN