Die neuen Migranten

EUROPA Sie sind Akademiker, Filmemacher, jobben in Restaurants: Drei Griechen, die im Zuge der Krise nach Berlin kamen, erzählen von den Schwierigkeiten, Fuß zu fassen – als Teil einer neuen Einwanderergeneration

„In Athen zu demonstrieren ist, als würde man sich auf ein Schlachtfeld begeben“

DIE GRIECHIN FOTINI CHORA

TEXT SUSANNE MESSMER
FOTOS DAVID OLIVEIRA

Und auf einmal beginnt sie im engen Plattenbauwohnzimmer zwischen den grünen Kunstledersofas einen griechischen Tanz. „Das ist kein Sirtaki“, ruft Polymnia Chachamopoulou, Sirtaki sei was für Männer. Sie legt die Zigarette in den Ascher, hebt stolz den Kopf und dreht sich um die eigene Achse. „Das ist Zeibekiko!“ Die kleine Frau mit den Glitzeraugen, die so viel Wärme und Charme versprüht, wirft die Beine in die Luft, als gelte es nichts.

Als wäre sie nicht hier, sondern in einer Taverne in Xanthi vielleicht, ihrer Heimatstadt im Nordosten Griechenlands: einem Städtchen zwischen Bergen und Meer, einer multikulturellen Stadt – die Grenzen zu Bulgarien und zur Türkei sind nah –, einer Stadt, der die Tabakindustrie einen Wohlstand brachte, den man ihr heute noch ansieht.

42 Jahre ist Chachamopoulou alt. Seit zehn Monaten lebt sie in Berlin, aber Heimweh kennt sie nicht. Das will sie auch nicht kennen. Der ewige Schnee hier? „Im Sommer wird es in Griechenland so heiß, dass man sich kaum bewegen kann.“ Anfeindungen, Griechenwitze? „In Griechenland gibt es auch Nazis“, sagt sie, „und zwar leider immer mehr.“

Polymnia Chachamopoulou gehört zu den griechischen Krisenflüchtlingen, die in immer größerer Zahl nach Deutschland und Berlin strömen: jährlich mehr als doppelt so viele wie in den Jahren vor der Krise. Zwar kommen viele auch auf gut Glück, haben wenig gelernt und stehen hier vor dem großen Nichts. Aber man schätzt, dass etwa die Hälfte der neuen Migranten aus Südeuropa akademisch ausgebildet sind. Sie sind nicht immer Doktoren oder Ingenieure, aber sie sind jene, für die Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen eine „neue Willkommenskultur“ in Deutschland installieren will. Sie sind eine neue Generation von Migranten, die Berlin verändern wird.

So auch Polymnia Chachamopoulou: Das Gespräch bestreitet sie in fließendem Englisch, sie hat Informatik studiert. In Xanthi war sie 13 Jahre lang Redakteurin und Layouterin der örtlichen Tageszeitung. Dann bekam sie kein Gehalt mehr, versuchte dies und das. Nun brennt sie darauf, endlich etwas zu tun, was sie kann. Sie hat in Berlin geputzt und gekocht, aber jetzt lernt sie erst mal Deutsch und bekommt Geld vom Jobcenter. Für sie steht außer Frage, dass sie bald einen Job finden wird.

Schon vor ihrem Tanz im Wohnzimmer, auf dem Heimweg von der Schule, an der sie seit einigen Wochen Deutsch lernt, hat Chachamopoulou sehr entschieden auf den Punkt gebracht, warum sie hier ist. Ab und zu eine Mahlzeit auslassen sei kein Problem, wenn man allein sei, sagt sie mit ihrer dunklen, rauchigen Stimme. Aber es ist ein Problem, wenn die Kinder Hunger haben. Und dann noch fragen, was aus ihnen werden soll.

Chachamopoulou steigt in die Tram und sagt, sie sei in ihrem ganzen Leben noch nicht so wütend gewesen wie damals, 2010, als die Krise sich zuspitzte. Sie setzt sich auf einen freien Platz, dreht sich eine Zigarette für später und sagt: „Es war eine große Entscheidung.“

Aber sie musste gehen, denn sonst wäre sie eines Tages verrückt geworden in ihrem schönen, sonnigen Land, das sie so liebt. Sie wollte nach Deutschland, denn sie glaubt an Deutschland, an die Disziplin, das deutsche Recht. Ihre Eltern waren von 1957 bis 1969 Gastarbeiter, irgendwo in der westdeutschen Provinz, bis kurz vor Polymnias Geburt, und es hat ihnen dort gefallen.

Während sie dies erzählt, blickt auf einmal eine alte Dame zu ihr herüber und lächelt sie an. Chachamopoulou lächelt zurück, ein breites Lächeln, ein Lächeln wie ein Entschluss. So wird sie im Laufe des Tages alle anlächeln, die sie ansehen: von den Nachbarmädchen im Aufzug des Plattenbaus bis zum Kellner im griechischen Restaurant, in dem ihr Mann Konstantinos, der in der heimischen Zigarettenfabrik ebenfalls kein Gehalt mehr bekam, Gemüse schnippelt.

„Irgendwas mit Kultur“

Lefteris Fylaktos sitzt in einem angesagten kleinen Café mit Trödelmöbeln und Tütenlampen, dem man nur am griechischen Tee und am mediterranen Frühstück anmerkt, dass es von Griechen betrieben wird. Hier in Neukölln fühlt sich der 39-jährige Fylaktos besonders wohl. Denn hier, meint er, sei es nichts Besonderes, von woanders zu kommen, „irgendwas mit Kultur“ zu machen und davon kaum die Miete zahlen zu können. So geht es im freigeistigen und armen Berlin beinahe jedem. Wie Polymnia Chachamopoulou will auch er trotzdem bleiben – um jeden Preis.

Denn Lefteris Fylaktos ist auch einer dieser neuen Migranten, die Berlin umkrempeln werden. Er ist Fernsehjournalist und Dokumentarfilmer, ein Mann mit sehr großen, ernsten Augen und lässigem Dreitagebart. Vor drei Jahren kam er von Athen nach Berlin, schon vor dem Ausbruch der Krise. Sein Deutsch ist noch immer etwas langsam, doch er kann schon jetzt klar sagen, was er möchte.

Lange genug hat er in Griechenland darauf gewartet, endlich loszulegen, zehn Jahre hat es gebraucht, bis sie ihm einen festen Vertrag beim Fernsehen anboten, und als er ihn endlich hatte, nahm er sich sofort eine Auszeit. Jetzt ist es, als sei ein Bann gebrochen, er ist umtriebig wie nie. Er gibt Filmschnittseminare, arbeitet bei einem Filmfestival und bei Korsakow Institut, einer kleinen, aber erfolgreichen Produktionsfirma für nonlinear erzählte Filme, deren einzelne Kapitel man sich per Mausklick in beliebiger Reihenfolge ansehen kann.

Gerade hat Fylaktos seinen Master in visueller Anthropologie an der Freien Universität gemacht, und zwar mit seinem neuesten Film „Café Finovo“, einer Dokumentation über einen Schöneberger Friedhof – Anwohner versuchen, einen anderen Zugang zum Sterben zu finden. Der Film ist sehr besonders erzählt, die Kamera pflegt kühle Distanz zu den Personen, dafür erzählen die sehr eindringlich aus dem Off. Sicher wird der Film etwas Karriere machen, auf Festivals, vielleicht im Fernsehen.

Aber was würde Lefteris Fylaktos erwarten, wenn er zurück nach Athen ginge, wenn er seine Stelle wiederannähme, die sie ihm bis Herbst freihalten? Sein Gesichtsausdruck wird einen Moment so abwesend, als säße er beim Friseur oder im Zug. „Ich würde mich fühlen, als müsste ich ersticken“, sagt er. Er ist nicht weniger wütend als Polymnia Chachamopoulou, wenn er von seiner Heimat erzählt, von seinen Brüdern, die 50 und 55 Jahre alt und arbeitslos sind, die von ihrem Ersparten leben, die er nicht unterstützen kann.

Nicht nur das Geld macht ihm die Vorstellung schwer zurückzugehen – inzwischen wären es wohl nur noch an die 1.000 Euro Gehalt, in einer Stadt, die eher teurer ist als Berlin. Es ist auch die Korruption, der Egoismus der Reichen und Mächtigen. Und der allgemeine Exodus: dass die Hälfte aller jungen Leute arbeitslos sind, dass alle gehen, die noch zu viel vorhaben. Und dass man nichts dagegen unternehmen kann, dass es nichts nutzt, den Protest auf die Straße zu tragen, wenn keiner zuhört. Diese Hilflosigkeit. Dieses Ausgeliefertsein.

Für seine Träume verprügelt

„Wenn man in Athen demonstrieren geht, ist es so, als würde man sich auf ein Schlachtfeld begeben“, sagt auch Fotini Chora am schweren Wohnzimmertisch ihrer WG in Wedding. „Man will für seine Rechte, seine Zukunft, seine Träume kämpfen und wird dafür verprügelt.“ Die zarte, blasse Athenerin mit den stahlblauen Augen ist im letzten Sommer nach Berlin gekommen, nach Monaten, in denen sie oft drei Jobs gleichzeitig machte, teilweise für 2 Euro die Stunde, manchmal, wenn es Überstunden waren, unbezahlt.

Zwölf Stunden am Tag, vier Stunden Schlaf, keine freien Tage, ohne Versicherung, dann doch gefeuert: Chora hat sich an vieles gewöhnen müssen. Sie lehnt sie sich kurz zurück, denkt nach, schaut streng.

Und schenkt dann den starken, scharfen Yogitee nach, der hilft gegen den Winter da draußen, der einfach nicht lockerlassen will. Auch sie ist außer sich, und aus ihren Augen strahlt auf einmal mehr Kraft und mehr Zähigkeit, als man sie der jungen Frau im ersten Moment zutrauen würde: „Wer sagt, wir seien faul, der hat nichts, aber auch gar nichts verstanden.“

Chora hat begonnen zu arbeiten, als sie 16 war und noch zur Schule ging. Jetzt ist sie 26 und hatte so viele Arbeitgeber, dass sie sagt, sie könnte alles machen – und alles wäre besser als das, was sie machen musste. Sie kennt sich aus mit technischer Fotografie, mit Informatik, Marketing.

Als sie in Berlin ankam, arbeitete sie zuerst in einem griechischen Restaurant, wo sie gemobbt wurde. Es gibt Leute aus der alten Generation von Migranten, sagt sie, die pflegen dieselben Stereotype über Griechenland wie manche Deutschen. Aber natürlich gibt es auch andere, die helfen. So wie die in der griechischen Gemeinde, wo Chora selbst unentgeltlich in der Kantine mitgearbeitet hat.

Ein Zimmer so groß wie das Hochbett

Aber jetzt lernt Fotini Chora erst einmal Deutsch, arbeitet für 6,50 Euro in einem anderen, einem deutschen Restaurant, das Jobcenter stockt auf. Sobald sie gut genug sprechen kann, will sie Kunst und Geschichte studieren. Natürlich: die Eltern, die Geschwister. Aber man kann ja billig fliegen. Berlin ist ein kleines Paradies, sagt sie und führt in ihr winziges Zimmer, so groß wie das Hochbett darin: zwei mal zwei Meter. „160 Euro“, strahlt sie. „Ich hatte solches Glück!“

Und nun, will sie bleiben? „Griechenland ist mein Zuhause. Aber ich habe da nichts mehr“, sagt sie. Jetzt bleibt sie erst mal hier. In vier oder fünf Jahren, da geht sie vielleicht zurück. Und will kämpfen.

„In vier oder fünf Jahren? Da bin ich zu alt“, sagt Polymnia Chachamopoulou beim zweiten Treffen im griechischen Restaurant, wo ihr Mann arbeitet. Sie will in die Feinheiten der griechischen Küche einführen, aber diesmal geht es auch um die beiden Söhne: Dimitrios, neun Jahre, und Iraklis, zehn Jahre alt.

Die beiden legen brav ihre Nintendos weg, als das Essen kommt, betreiben höflich Konversation, reden über deutschen Fußball, über ihre nächsten Ferienziele, natürlich alles auf Deutsch. Die beiden gehen auf die deutsch-griechische Europaschule in Steglitz, ihre Noten sind durchgängig gut und sehr gut. Sie haben genauso viele griechische wie deutsche Freunde.

„Für sie ist Deutschland jetzt schon ein Zuhause“, sagt Chachamopoulou und fährt einem der beiden stolz durchs Haar.

Und für sie?

„Ich will es wie die Mexikaner machen“, sagt Polymnia Chachamopoulou. Die gehen in die USA und sagen einfach, dass sie Amerikaner sind. Grenzen, Nationen – was ist das schon. „Ich bin Europäerin“, sagt sie. Und dreht sich noch eine.