Die makelhafte Akte

REPRESSION Gabriela Adamesteanu schildert den Druck der Anpassung im totalitären Rumänien

VON CAROLA EBELING

Es ist ein Debüt, das die deutsche Leserschaft mit fast vierzigjähriger Verzögerung erreicht: Der Roman „Der gleiche Weg an jedem Tag“ erschien 1975 in Rumänien, seine Autorin Gabriela Adamesteanu gilt heute als eine der wichtigsten Schriftstellerinnen des Landes. Ihre Erzählungen und Romane wurden mehrfach ausgezeichnet und in andere Sprachen übersetzt. 1942 geboren, arbeitete Adamesteanu bis zur politischen Wende 1989 als Lektorin und war dann als Journalistin tätig. Sie war Präsidentin des rumänischen PEN und wurde 2002 von Human Rights Watch für ihren Einsatz für die Demokratisierung Rumäniens ausgezeichnet.

Angst als Gewohnheit

Ende der 80er Jahre stand sie den Dissidenten nahe – war sie selber eine Dissidentin? Manche würden ihr das wohl absprechen, die Diskussion über die Rolle der rumänischen Intellektuellen und Literaten ist aufgeladen, die Aufarbeitung zögerlich. Ihr Debüt konnte jedenfalls erscheinen: ein Buch, das davon erzählt, wie politische Repression sich als ständig präsente Angst in den Menschen einnistet und so zur Gewohnheit werden kann, dass die Handlungsweisen, die diese Angst erzeugt, nicht mehr hinterfragt werden.

Adamesteanu schildert das aus der Perspektive eines jungen Mädchens, Letitia. Anhand ihrer Entwicklung, ihrer Selbstsuche, entwirft die Autorin zugleich ein Porträt Rumäniens in den 50er und 60er Jahren. Oft in der Form des inneren Monologs erinnert die Ich-Erzählerin diese Zeit. Letitia wohnt mit ihrer Mutter und deren Bruder, Onkel Ion, in der Provinz. Sie teilen sich ein Zimmer, die Verhältnisse sind ärmlich. Der Vater ist aufgrund familiärer Verbindungen zu den faschistischen Machthabern der 40er Jahre im Gefängnis. Das bekommen die drei zu spüren: Es gilt Sippenhaft.

Anfeindungen durch die Nachbarn sind Alltag. Und die wissenschaftliche Karriere des Onkels ist in einem öden Lehrerdasein versickert, geprägt von Anpassung bis hin zur Selbstverleugnung. Die schlechte „Akte“ ist eine latente Drohung, das reicht aus. Es gibt aber eine Beharrlichkeit Ions, der weiter an seinem nicht näher benannten Thema arbeitet, wissend, dass er nie wird veröffentlichen können.

„Reichte ihm das für seinen Seelenfrieden, habe ich mich später gefragt, reichte es ihm, zu wissen, dass er der beste und am ungerechtesten eingestufte Lehrer der Schule war? Er lebte nämlich, als hätte er noch ein Leben zu erwarten nach diesem, das nun mal war, wie es war.“ Letitia erwartet gar nichts in der Provinz, geht zum Studieren in die zwei Stunden entfernte Hauptstadt, nach Bukarest. Hier pulst eine andere Atmosphäre, die Adamesteanu in einer sinnlichen Sprache zu vermitteln weiß. Doch wie ein anderes Leben aussehen könnte, wie Letitia die werden kann, die sie ist, wie es an einer Stelle heißt, das ist vollkommen ungewiss.

Die Stadt scheint freier – und ist doch genauso durchdrungen von dem System der Anpassung. Wer was werden will, muss sich in den richtigen politischen Gruppen engagieren, gute Herkunft und Beziehungen helfen. Die makelhafte Akte ist natürlich auch an der Fakultät bekannt. Die Autorin stattet ihre Protagonistin mit einer unerhört feinen Wahrnehmung aus: Genau beobachtet Letitia die Menschen um sich herum und zum Greifen nah blitzen Details der Stadt auf – der Dreck auf den Gehwegen oder der Lichteinfall in einer Pfütze. Und genau schaut sie auch in sich selbst. Sieht ihr Schwanken zwischen anders sein und genauso sein wie alle anderen. Erkennt in ihrer Liebe zu dem Dozenten Petru Arcan auch ihren starken Wunsch, in jene andere Welt einzutreten, die er verkörpert und von der sie qua Herkunft und „familiärer Belastung“ ausgeschlossen ist. Spürt scharf die Angst, die sie vom Onkel übernommen hat: „Ich kannte gar keinen anderen Zustand als den der Angst.“ – und erwehrt sich ihrer in einem entscheidenden Moment.

Freiheit der Aussparung

Adamesteanu, die politische Repressionen in ihrem engsten Familienumfeld selbst erlebt hat, erzählt von der Politik und den Verhältnissen, indem sie deren Auswirkungen in den Biographien der Menschen beschreibt. Konkrete politische Entwicklungen werden kaum aufgenommen. Sie sind präsent in der Auslassung. Indem die Autorin sich ganz auf den ja beschränkten Kosmos der jungen Frau einlässt, verschafft sie sich die Freiheit dieser Aussparung – die wohl auch Voraussetzung für die Publikation Mitte der 70er Jahre war. Das funktioniert erzählerisch sehr gut. Und tatsächlich ist der Roman universell in seinen Schilderungen des Erwachsenwerdens, des Sich-Bezweifelns, des Loslösens von der Familie –und auch die ungleichgewichtige Liebesgeschichte darin ist von einer psychologischen Feinheit, die auch ganz jenseits politisch repressiver Systeme trifft.

Die Geschichte einer geglückten Emanzipation erzählt das Buch nicht: Die innere Entwicklung Letitias ist sehr ambivalent – und das entspricht auch eher den bedrückenden politischen Gegebenheiten jener Zeit.

Gabriela Adamesteanu: „Der gleiche Weg an jedem Tag“. A. d. Rumän. v. G. Aescht. Schöffling, Frankfurt/M. 2013, 440 S., 22,95 Euro